Freitag, 23. Oktober 2009

Wo der Herbst

Spinnen verzwirnten das Licht zu Kammern und Räumen. Am Weiher,
dort, wo der Herbst jetzt wohnt, sind sie schon lange zugang:
noch eine Landschaft am Schilf, zu den helleren Zeichen der Schwäne.
Unten der Himmel im Strom zittert, von Pfaden berührt.

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Paul-Schallück-Straße

Es gibt nämlich keine Paul-Schallück-Straße mehr. Klar, der Stadtplan. Der kann viel erzählen. Stadtpläne wissen aber nichts von den Orten, die sie abbilden. Stadtpläne sind blind. Du betrachtest sie, folgst vielleicht mit dem Finger (das hat etwas Hingebungsvolles, das gefällt mir, ja, aber), mit dem Finger folgst du vielleicht dem Geschlängel eines Weges, wobei du dir vornimmst, den gehe ich demnächst, bald oder nächstes Jahr, oder wenn wieder Herbst ist, so wie früher, denkst du, und dabei stellst du dir Landschaften vor, die du aus den ins Abstrakte projizierten Angaben der Karte wieder in die Wirklichkeit zurückformst; aber so ein Herbst kommt ja doch nicht, auch kein ähnlicher, und auch der Weg, den du meinst, den die Karte aber nur abbildet, ist verschwunden; oder du pochst auf eine Stelle, eine Kreuzung vielleicht oder einen Abzweig, den du mal verpaßt hast, oder etwas, das ganz unscheinbar ist, und das dir nur dadurch wichtig wird, daß da mal jemand stand und lächelte, an einer öden Häuserecke, oder dir entgegenkam, auf dich gewartet hatte, oder einfach nur in deinen Gedanken war und dort mit dir und hineingespiegelt in die Wirrnis eines Unortes, auf den du jetzt, mühelos wiedergefunden, deinen Finger legst: Wie auf etwas, das sich orten und festhalten ließe. Als wäre dieser Ort nicht vielmehr in dir selbst als auf irgendeiner Karte zu finden. Du trägst ihn mit dir herum. Die Karte weiß nichts, sagt Paul-Schallück-Straße, sagt Hier, aber sie hat keine Ahnung.
Wer Paul Schallück war, das haben wir auch nie herausgefunden, nicht einmal versucht haben wir’s, jetzt ist es egal, denn die nach ihm benannte Straße, auch so ein Ort, gibt es ja nicht mehr, Stadtplan hin oder her, leg nur deinen Finger drauf, hier das Justizgebäude, dort der Supermarkt, dort die Eisenbahnlinie (das Quietschen nachts, wenn die Güterwagen herumgeschoben wurden, wir mochten das beide, diese nahe Ferne, die Stimmen hin und her, Geräusche wie Reise und Unterwegssein, wir lauschten dem, brauchten nichts zu reden, schmiegten uns aneinander, draußen rumpelte es manchmal, dann herrschte die Stille der weiten Welt, Bahnhöfe, Häfen, die Laternen des Aufbruchs, der immer gemeinsamer Aufbruch war, sein sollte, gewesen wäre), leg nur den Finger drauf, versuchs nur, es ist dort nichts, nur der Name ist geblieben, von Bahnhöfen und Häfen und Schalterhallen, das bedruckte Papier. Wir waren kaum je gemeinsam unterwegs. Hättest du ihn schon gefunden, nur weil da der Name steht? Später bist du noch oft dort entlanggegangen, hattest dummerweise was vergessen, mußtest in den Supermarkt, hieltest den Kopf gesenkt, um ihr nicht zu begegnen, fragtest dich jedesmal, ist sie zuhause, in unserem ehemaligen Heim, da drüben, das Fenster fast sichtbar durchs Ahornlaub, steht sie jetzt hinter diesen Spiegelungen, die ein Stück Himmel mit Wolken darin, mit Wind darin, heruntersaugen, unsichtbar ihr dunkles Haar, spielt sie Klavier, die Töne beinahe bis hierher hörbar, wäre der Wind nicht, die Schritte der Leute nicht; oder tritt sie am Ende noch gerade jetzt heraus, um dir zu begegnen und wieder nichts zu sagen zu haben, nur ohne Quietschen diesmal, ohne Schmiegen. Einmal hin, wieder zurück, diesmal ihre vermeintlichen Blicke, ihr Zögern und Ausweichen im Rücken. Ging sie vielleicht einmal hinter dir, langsam, damit eure Wege sich nicht kreuzen müßten, du sie nicht bemerken würdest, wenn du dich umdrehtest?
Und wußtest nicht, sooft du dort vorbeigingst, daß es diesen Ort ja schon längst nicht mehr gab. Glaubtest sie dort oben, dabei war sie schon längst ausgezogen. Fürchtetest und ersehntest ganz umsonst ihre Begegnung.
Du drehtest dich nicht um, nie. Sie auch nicht, das war nicht ihre Art. Auch Abschiede nicht, waren nicht ihre Art. Ebensowenig wie ein großes Wort, ein Wort, das den Mut hätte, Großes zu sagen, nein. Wegdrehen, weggehen. Jetzt ist dieser Ort verschwunden, der Ort, der uns noch kannte, und wer Paul Schallück war, ist abermals unbedeutend, hier ist nichts nach ihm benannt, wie schnell Karten veralten können, nicht? Da zeigt das Blatt noch diesen Straßennamen, dabei … Da gibt es doch nichts. Man kommt dort nirgendwo aus, man verläuft sich, macht noch ein paar Schritte, hat einen Gedanken, verheddert sich, hascht nach einer Erinnerung, die dir plötzlich, aber sie ist schon weg, und im nächsten Augenblick bist du im Kreis gelaufen und wieder dort, wo du seit einiger Zeit schon dich aufhältst. Zuhause bist du nicht, hier nicht und dort nicht, und die Paul-Schallück-Straße gibt es nicht mehr. Am Ende, beim letzten Blick aus dem Fenster dieses Ortes, den es nicht mehr gibt, waren die Blätter des Bäumchens auch gelb. Vielleicht hast du noch das Laub dieses Ahornbäumchens wehen sehen, auf einem deiner vielen Gänge in dieses Abseits jedes möglichen Raums, hinter der Häuserecke hervor, Blätter, die aus einer imaginären Richtung herausfallen, in den irrealen Vektor des Lichts geraten, wo sie aufblitzen, Blätter, deren Wirbel vom Schatten verschluckt werden, über den Boden rascheln, still sind. Immer mehr Blätter, die vor deinen Füßen liegenbleiben.
Dieser Ort ist mehr als er selbst, und darum so unzugänglich, daß es ihn nicht gibt, unaufholbar. Gleich einer Karte zeigt er Namen und Bilder, eine Täuschung, steht er an der Kreuzung potentieller Vielfacher von ihm selbst. Unsortierbar und unzerlegbar die Folien, die über ihm und über einander liegen, aus deren höherdimensionaler Interferenz etwas entsteht und immer weiter wirkt, das für immer einen Raum im Außerhalb von allem einnimmt. Indem er über sich selbst hinausweist, bleibt der Ort unerschöpflich. Eine Ahnung zieht dich immer wieder hier hin, als könntest du dich in diese Dimensionen auffächern und darin herumgehen, aber selbst wenn … Was würdest du sehen, was doch immer nur im Sehen verhaftet bliebe?
Heute warst du wieder im Park mit den Photonegativen. Wie dunkel ihre Stirn leuchtete. Wie hell die Augen, als könnten sie, solche Augen, als einzige sehen, den Ort, wie und wo er wirklich ist oder war oder sein wird.

Mittwoch, 30. September 2009

und noch einmal

Bach. Ja, kein Geringerer als der Meister selbst. Im Traum erklang vermeintlich das Cembalokonzert in d, und zwar in einer vom Magister somniorum persönlich eingerichteten Fassung für Cembalo und zwei Blockflöten, allerliebst. Nicht zu verkennen das Streicherunisono zu Beginn des ersten Satzes, nur dunkler, verschattet, in braune und schwarze Ölfarben getunkt, dick wie Kakao, ich mußte (im Traum!) ans 6. Brandenburgische Konzert denken, wo Bach originellerweise auf Violinen gänzlich verzichtet hat. So ähnlich klang nun der barsche Anfang des Konzerts in d. Allerdings leicht verändert, ver-rückt, wie ein Weg, der plötzlich eine Wende macht, an die man sich nicht erinnert ... Ich weiß noch die Überraschung, als plötzlich die beiden Blockflöten einsetzten und statt einem drei Soloinstrumente das Tutti ablösten. Überdies noch in eine ferne Tonart, wie es schien, modulierend, wobei sie harmonische Pfade betraten, von denen wohl seinerseits der Meister nicht zu träumen gewagt hätte.

Donnerstag, 17. September 2009

Musiktraum

Zweimal in der Folge weniger Tage von Musik geträumt oder besser, Musik geträumt. Diesmal keinen vorgeblichen Dvořák, diesmal erklang, so wollte es der Traum wissen, Beethoven, und die schneidenden Akkorde, in einem Dreierrhythmus stolzierend, triumphierend, bildeten das Ende einer Sonate für Violine und Klavier. Wieder bin ich mir sicher, daß es diese Musik nicht gibt, jedenfalls nicht von Beethoven, aber nach allem, was ich von dem Traum noch im Ohr habe, auch nicht von irgendeinem anderen Komponisten.
Heute nacht nun abermals Musik, diesmal nach Auskunft des Traumes ein Klavierstück von Prokofjeff. Das ist nun sicher kein Zufall, denn gestern morgen gab es im Radio ein kurzes Stückchen aus einer Klavierbearbeitung des Balletts Romeo und Julia von nämlichem Tonsetzer, und gestern nachmittag habe ich mir gleich eine CD des Balletts in der Bibliothek besorgt (aber noch nicht reingehört).
Was ist das also? Täuscht mich mein Wachgedächtnis und Wachohr, und erlebe ich vielleicht in solchen Träumen Musik, die ich schon kenne und mir nur von meinem Gedächtnis eingespielt wird? Ist ein solcher Traum nur ein Erinnern, das mir aber als völlig Neues vorgestellt wird? Stilistisch paßt das, was ich da höre, jedenfalls immer zum Komponisten, der Beethoven neulich ebenso wie die etwas hektischen, sehr virtuosen Läufe und Figuren des Prokofjeffstücks, die an seine Violin- bzw. Flötensonate erinnerten. Und vielleicht war es ja auch die Violinsonate. Oder erklingt da wirklich unerhörte Musik? Aber wo kommt sie her? Ich komponiere ja auch nicht im Traum, noch spiele ich das Instrument selbst, ich höre diese Musik, als einer, der keinen Einfluß auf das hat, was er da hört. Und wäre es möglich, sie zu bewahren, durch eine übermenschliche Gedächtnisleistung aus dem Traum in die Wirklichkeit zu heben? Oder würde man sie verblassen hören, wie manche leuchtenden Wasserpflanzen, wenn sie, ehemals sanft wehende, filigrane Anmut, an Land gehoben, zu fahler Belanglosigkeit zusammensinken?
Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß diese Träume, noch vor einer anderen Sorte Traum, das schönste sind, das ich jemals in Morpheus’ Reich, dieser anderen Seite erleben durfte.

Sonntag, 13. September 2009

mmwhahaha

Gerade in einem Forum gelesen und lauthals gelacht:

"gehört zwar nicht zum Thema, aber ich finde ganz toll, das auch Nordic Walker nur zwei Hände haben.
Sonst hätten die bei Regen in der dritten Hand noch einen Regenschirm, dann käme man gar nicht mehr an ihnen vorbei."


Dem kann man nur zustimmen!

Donnerstag, 10. September 2009

Intelligente Spezies

Bei Wikipedia "Selbstanwendungsdilemma" eingeben und "Meinten Sie Selbstbedienungsladen? als Antwort erhalten.
Froh sein, daß man nicht noch phantasievollere Vorschläge bekommt.

Dienstag, 8. September 2009

Zittern, nächtens

Zittern. Zur Nacht, den Mond in den Adern. Die Schriften der Käfer
unbesehn im Gestein. Blau unterm Silber: Dein Blut.

Mittwoch, 2. September 2009

Latrina latina

Gestern fragte mich mein Nachhilfeschüler nach dem lateinischen Ausdruck für „kacken“. Seien wir nachsichtig, er ist 13, und man darf noch froh sein, daß er nicht nach solchen Vokabeln fragt, wie sie allenfalls in manchen Catullgedichten vorkommen. Nun ja. Ein bißchen in Verlegenheit, weil einem solche Ausdrücke nicht sofort auf der Zunge liegen, zumindest nicht auf Latein, erinnerte ich mich dann aber an einen gewissen Graffito aus Pompeji, in welchem davor gewarnt wird, an nämlicher Stelle zu urinieren oder, na ja, zu kacken eben. Nachdenklich macht dabei der in der Warnung zur Sprache kommende Ort des improvisierten Klos. Offenbar war der Hinweis nötig, daß es unfein ist, sich über Gräbern zu entleeren.
Man beachte, daß diese Lateinische Version eines Textes der heutigen Sorte „Hunde an der Leine führen“ oder „Rasen betreten verboten“ in Versen formuliert ist und aus zwei elegischen Distichen besteht. Damit orientiert sich der Text an der Form des Epigramms, das ursprünglich in Weih- und Grabinschriften verwendet, später aber auch mit dichterischer Intention für allerlei kritische, witzige und pointenreiche Gedichte in Gebrauch genommen wurde. Beispielsweise dieses kleine Epigramm vom wohl berühmtesten aller Epigrammatiker, Martial:

Esse nihil dicis quidquid petis, inprobe Cinna:
si nil, Cinna, petis, nil tibi, Cinna, nego.
(III, 61)

„Es sei doch gar nichts, worum du mich bittest, sagst du, unverschämter Cinna: Na, wenn du mich um nichts bittest, dann schlage ich dir ja auch nichts ab.“

Gleichzeitig ist der Graffito eine Parodie auf den Inhalt des typischen Grabepigramms, indem es einen gängigen Topos aufgreift: die Verfluchung des Grabschänders. Nur daß hier die Nemesis darin besteht, daß den vorwitzige Notdurftverrichter Brennesseln an einer empfindlichen Stelle reizen mögen. Zum Vergleich ein Ausschnitt aus einer Art „echten“ Grabepigramms des Horaz (kein eigentliches Grabepigramm, aber der Fluchtopos ist der gleiche):

At tu, nauta, uagae ne parce malignus harenae
ossibus et capiti inhumato
particulam dare: sic, quodcumque minabitur Eurus
fluctibus Hesperiis, Venusinae
plectantur siluae te sospite multaque merces,
unde potest, tibi defluat aequo
ab Ioue Neptunoque sacri custode Tarenti.
Neglegis inmeritis nocituram
postmodo te natis fraudem committere? Fors et
debita iura uicesque superbae
te maneant ipsum: precibus non linquar inultis
teque piacula nulla resoluent.
(carmina I, 28)

„Aber du, Seemann, zögere nicht boshaft, ein Körnchen des wehenden Sandes zu schenken: So sollst du heil bleiben, während, was auch immer der Eurus mit den Fluten Hesperiens vorhat, nur die Wälder Venusinas trifft, und reiche Ware, woher nur möglich, soll dir vom gerechten Jupiter und vom Wächter des heiligen Tarent, Neptun, zufließen. Willst du aber leichtfertig einen Frevel begehen, der deinen Kindern später schaden wird, die nichts dafür können? Vielleicht auch holt die verdiente Gerechtigkeit und die Rache für deinen Hochmut dich selber ein: Meine Bitten um Vergeltung werden nicht unerhört bleiben, dich aber werden keine Gebete erlösen.“

Hier aber nun sind es Brennesseln. Hohe Form für einen banalen Anlaß. Elegisches Distichon, tja. Unterhalb dessen griff der Lateiner erst gar nicht zur Feder. Man stelle sich vor, wie das wäre, wenn statt eines „Ballspiele untersagt“ ein mahnendes

Kinder, der Rasen ist schön, drum trampelt ihn nicht mit den Füßen
Hier zu kicken den Ball, raten möcht ich euch nicht!

auf der grünen Tafel zu lesen wäre. Das elegische Distichon setzt sich im übrigen aus je einem (katalektischen) daktylischen Hexameter und einem daktylischen Pentameter zusammen. Letzteren kann man sich als aus zwei halben Hexametern bestehend denken, die jeweils an der Penthemimeres (nach fünf Halbfüßen) „abgeschnitten“ sind. Ein berühmtes Beispiel ist die Charakterisierung des elegischen Distichons von Schiller – in Form eines nämlichen Distichons, versteht sich:

Ím Hexámeter steígt des Spríngquells flü´ssige Säúle.
Ím Pentámeter draúf fä´llt sie melódisch zurü´ck.

Was Matthias Claudius zu folgender Parodie inspirierte:

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus.

Die Forderung, im zweiten Halbvers des Pentameters keine Spondäen (Folgen von zwei langen Silben) zuzulassen, ist in dem Pißverbotsepigramm auch eingehalten.

Hier aber nun der Text:

Hospes adhuc tumuli ni meias ossa precantur.
Nec, si vis huic gratior esse, caca !
Urticae monumenta vides. Discede, cacator !
Non est hic tutum culum aperire tibi.

Fremder, dich bitten die Knochen, doch nicht an die Gräber zu pinkeln.
Noch, willst freundlich du sein, mach hier dein großes Geschäft!
Vor einem Denkmal voll Brennesseln stehst du, verschwinde, du Kacker!
Nicht ist es sicher für dich, hier zu enblößen den Arsch.

Sonntag, 30. August 2009

Nach Hause

Das Nachhausekommen gelingt nicht mehr. Du steigst aus dem Zug, gehst die stillen Straßen hinunter, schließt die Tür auf. Zuhause bist du nicht, lange nicht, lange nicht mehr gewesen. Trauer, wieder Trauer. Worüber? Über einen unnennbaren Verlust. Ohne Wortweiser. Die Gedichte rühren zu Tränen, aber du betrachtest sie von einer anderen Welt aus, von deiner Warte des Verlorenseins, und drüben, die Worte, die von je du kennst, sie haben sich aus dem Wirklichen gelöst, in das du auch eingebettet sein durftest, einmal, jetzt aber nicht mehr. Jahre und Jahre und Licht, den Duft der Tannen in der Nase, die Krähen, die Felder, an deren Stoppeln sich das Licht bricht, in die Ferne hinein, die dich immer auch enthielt, ein Stück weit, deine Ferne war, aber erst jetzt, wo du das kennst, bedeutet es etwas. Und auch dieses hast du verloren, wie die Heimat der Gedichte, an irgend einer Wegkreuzung hast du dich aufgemacht, aber wann das war, das bekommst du einfach nicht mehr zusammen, oder wo, fassungslos blätterst du die Tagebücher auf, da steht sie, die Jahreszahl, das Datum, aber wann das war? Nicht einmal deine eigene Schrift ist das doch noch, so krakelig, so steil und stolz, das sollst du geschrieben haben? Woher denn dieser Stolz? Nein. Das ist weg. Weg wie die Pfade, wie die Abenddämmerung, die Heimkehr, ja, die Heimkehr, dieser langsame Schritt in ein warmes Licht von Stube und Sorglosigkeit, Duft und Lernendürfen und Ruhe, dieses Nachhausekommen, das dir, egal, wo du wohnst, gleich wie die Laternen, die Fenster, die Eulen oder die Bahnen der Fledermäuse beschaffen sind, gleichwie, nicht mehr gelingen will, einfach nicht mehr gelingt.

Freitag, 28. August 2009

Bilder

Sonne strömte ins Antlitz, ins spiegelschwere, euch Schalen,
daß euer träumendes Rund inwendig Bilder beschwor:
fiel nur ein Schatten des Wegs oder tappte ein Schritt von den Haseln:
Lichter der Mädchen am Schilf fielen als erste euch ein.

Donnerstag, 27. August 2009

Fortsetzung

Schon fiel Asche auf die Schiffe nieder, desto heißer und dichter, je näher sie kamen; dann sogar Lavabrocken und schwarze, verbrannte, im Feuer geborstene Steine; dann eine plötzliche Untiefe, und das Ufer von einem Bergsturz abgeriegelt. Nach kurzem Zögern, ob er umkehren solle, sprach er zum Steuermann, der ihm dazu riet, „Dem Tapferen hilft das Glück: Fahr zu Pomponianus.“ Dieser hielt sich in Stabiae auf, durch die Bucht von uns getrennt – denn die Küste weicht hier allmählich in Windungen und Krümmungen zurück –; dort hatte er, obwohl die Gefahr sich noch nicht näherte, aber doch schon abzusehen war, und, würde sie zunehmen, sehr nahe wäre, sein Gepäck auf Schiffe geladen, zu Flucht entschlossen, wenn nur der ungünstige Wind sich erst gelegt hätte. Unter diesem Wind läuft nun mein Onkel ein, umarmt Pomponianus, tröstet den Zitternden, muntert ihn auf, und läßt sich schließlich ins Bad bringen, um so mit seiner eigenen Seelenruhe die Furcht des anderen zu besänftigen; nach dem Bade legt er sich zu Tisch und speist heiter oder – was genauso großartig ist – sich den Anschein der Heiterkeit gebend. Inzwischen leuchteten vom Vesuv her breite Feuersbrünste und hohe Brände, deren strahlende Helligkeit durch die Schwärze der Nacht noch verstärkt wurde. Als Gegenmittel gegen ihre Furcht sagte mein Onkel immer wieder, daß die Bauern in ihrer Panik die Herdfeuer sich selbst und ihre Häuser verlassen hätten, und das es diese seien, die dort nun allein vor sich hin brennten. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief auch wirklich; den sein tiefes Atmen, das bei ihm wegen seiner Leibesfülle ziemlich tief und laut war, wurde von denen gehört, die an der Schwelle lauschten. Aber Gelände, von wo man das Gartenhaus betrat, hatte sich schon mit einem Gemisch aus Asche und Lava gefüllt und war so sehr angestiegen, daß, wenn mein Onkel länger im Schlafgemach geblieben wäre, er nicht mehr ins Freie hätte gelangen können. Man weckt ihn, er kommt heraus und gesellt sich zu Pomponius und den anderen, die die Nacht durchwacht hatten. Gemeinsam beratschlagen sie, ob sie im Haus bleiben oder sich lieber draußen aufhalten sollen. Denn die Wände neigten sich unter zahlreichen, heftigen Erdstößen, und wie aus ihrem Fundament gerissen, schienen sie sich mal hierhin mal dorthin zu verschieben und wieder zu ihrer alten Lage zurückzukehren. Unter freiem Himmel andererseits fürchtete man den Hagel von Lavabrocken, wenn diese auch leicht und schon ausgeglüht waren; dennoch sprach ein Abwägen der Gefahren für diesen Weg; bei meinem Onkel trug freilich die eine Überlegung über die andere, bei den übrigen aber die eine Furcht über die andere den Sieg davon. Sie legen sich Kopfkissen aufs Haupt und befestigen sie mit Leintüchern; das war ein Schutz gegen die fallenden Steine. Andernorts war schon Tag, hier aber herrschte noch Nacht, schwärzer und undurchdringlicher als je eine; aber sie wurde auch von Fackeln und verschiedenartigen Lichtern erhellt. Man beschloß, zum Strand hinunterzugehen und aus der Nähe zu sehen, ob das Meer schon eine Fluchtmöglichkeit böte; aber es blieb aufgewühlt und der Wind ungünstig. Dort legte sich mein Onkel auf ein niedergeworfenes Leintuch, bat immer wieder um kaltes Wasser und trank es. Dann lassen Flammen und der Vorbote von Flammen, ein Geruch nach Schwefel, die anderen das Weite suchen, meinen Onkel aber scheuchen sie auf: Gestützt auf zwei Sklaven steht er auf – und bricht sofort wieder zusammen, weil, wie ich vermute, der ziemlich dichte Rauch ihm das Atmen schwer machte, indem sich seine Luftröhre, von ihrer Anlage her schwach, eng und oft flatterig, verschloß. Als das Tageslicht wiederkehrte – es war der dritte seit dem, an dem er zuletzt gelebt hatte – fand man seinen Leichnam unversehrt, ohne Verletzung, in den Kleidern, die er zuletzt getragen. Sein Körper glich mehr einem Schlafenden denn einem Toten.

Währenddessen waren meine Mutter und ich in Misenum – aber das ist für die Geschichte ohne Belang, und Du hattest ja nur vom Tode meines Onkels erfahren wollen. Also schließe ich hier. Eines nur möchte ich hinzufügen, daß ich nämlich alles, bei dem ich selbst zugegen, und auch, was ich gleich danach, als es noch am genauesten im Gedächtnis war, gehört, getreulich berichtet habe. Du wirst daraus das wichtigste auswählen. Es ist nämlich etwas anderes, ob man einen Brief oder ein Geschichtswerk, ob man einem Freunde oder für alle Menschen schreibt. Lebe wohl.

Montag, 24. August 2009

a.d. IX Kal Sept. anno 832 (24. August 79)

C. Plinius grüßt Tacitus

Du bittest mich, daß ich Dir vom Ende meines Onkels schreibe, damit Du den Nachfahren wahrhaftiger davon berichten kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tode, wird er von Dir gewürdigt, unsterblicher Ruhm zukommt. Denn obwohl er bei der Vernichtung der herrlichsten Landschaften, ebenso wie Bevölkerung und Städte in einem denkwürdigen Untergange zugrundeging, gleichsam, als ob er für immer leben sollte; und obwohl er mehrere bleibende Werke schuf: So wird dennoch die Unvergänglichkeit Deiner Schriften zu seinem Fortleben viel beitragen. Ich halte wahrlich die für glücklich, denen das Göttergeschenk gegeben ist, beschreibenswertes zu leisten oder lesenswertes zu schreiben; am glücklichsten aber die, denen beides gegeben ist. Zu ihnen wird auch mein Onkel zählen, durch Deine Bücher und seine eigenen. Und darum will ich Dir gerne Deinen Wunsch erfüllen, ja, ich verlange selbst nach dem, was du mir aufträgst.

Mein Onkel war in Misenum und befehligte dort persönlich die Flotte. Am 24. August, ungefähr zur siebten Stunde, machte meine Mutter ihn auf die Erscheinung einer Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt aufmerksam. Mein Onkel hatte sich gesonnt, danach kalt gebadet, im Liegen etwas gegessen und arbeitete jetzt. Er verlangt seine Sandalen, steigt auf eine Anhöhe, von wo man das Wunder am besten beobachten kann. Die Wolke – von weitem betrachtet war unklar, von welchem Berg; später wurde bekannt, es sei der Vesuv gewesen – die Wolke also stieg in die Höhe und ließ mit ihrer Form von allen Bäumen am meisten an eine Pinie denken. Denn hochgewachsen wie auf einem sehr langen Stamm teilte sie sich in der Höhe in etliche Äste, ich glaube, weil sie von einem Luftstrom vor kurzem hinaufgetrieben worden war, und dann, als dessen Kraft nachließ, von ihm im Stich gelassen oder von ihrem eigenen Gewicht bezwungen, in die Breite ging, an manchen Stellen weiß, an anderen schmutzig und fleckig, je nachdem, wo sie Asche oder Erde emporgerissen hatte. Es schien etwas Großen zu sein, das ein gelehrter Mann näher erforschen müsse. Mein Onkel befiehlt, ein kleines Schiff bereit zu machen; mir stellt er frei, ob ich mitkommen will; ich antwortete, daß ich lieber arbeiten wolle, und zufällig hatte er selbst mir etwas zu schreiben gegeben. Er war im Begriff, das Haus zu verlassen, da bekommt er ein Briefchen von Rectina, der Frau des Tascus, die außer sich vor Angst ist über die drohenden Gefahr – denn ihr Haus lag am Fuß des Berges, und es gab von dort keinen anderen Fluchtweg als mit Schiffen –: Sie bat darum, daß mein Onkel sie dieser Gefahr entreiße. Dieser ändert seinen Entschluß, und was er aus Forschergeist begonnen, nimmt er jetzt aus Großmut auf sich. Er läßt Vierruderer auslaufen und geht selbst an Bord, um nicht allein Rectina, sondern vielen Menschen – die schöne Küste war ja dicht besiedelt – Hilfe zu bringen. Er eilt dorthin, woher andere fliehen, und hält Kurs und Steueruder geradewegs auf die Gefahr zu, derart frei von Furcht, daß er alle Veränderungen und alle Einzelheiten dieses schlimmen Ereignisses diktierte und festhielt, so wie seine Augen es erfaßten.

Schon fiel Asche auf die Schiffe nieder ...

Freitag, 21. August 2009

Albträume

Immer wieder zwischen vergessenen Bildern das fehlende Bein, die Frau, Freundin, Bekannte, ich kenne sie nur halb, die den Fuß verloren hat. Ein Text mit Riesenbuchstaben schwarz und kantig und enggedruckt wie die Warnhinweise auf Zigarettenpackungen, aber keine Warnung, sondern die Feststellung einer Tatsache, „Ein roter Schnitt wird jetzt dein Leben teilen und bestimmen“, das meint den Fuß, sein Fehlen, die Tatsache, daß sie, wer immer es ist, diese Verletzung erlitten hat. Die Folgen dieser Verletzung jetzt aushalten muß, und ich mit ihr. Erschüttert mich bis ins Innerste. Quält mich. Im Traum der Gedanke an Prothesen, klack-klack. Die Hilflosigkeit. Das Nicht-mehr-Gehen-können.

Ich erwache, alles nur ein Traum. Bevor ich aber richtig erleichtert sein kann, schlafe ich wieder ein, und alles geht von vorne los. Diesmal fehlt der Fuß jemand anderem, einer Frau auch diesmal, die ich jedoch noch weniger kenne als die erste. Sie spricht davon, erzählt das Unglück, burschikos, wie man über ein kleineres Mißgeschick spricht. Meine Erschütterung genauso tief wie die des ersten Traums.

Dann Szenenwechsel. Meine Vermieterin spricht mir und meinen Eltern die Kündigung über unsere Wohnung aus, und es ist die Vermieterin, mit der ich in Wirklichkeit seit Juli einen Vertrag habe. Wir müßten das dann noch unterschreiben sagt sie und gibt uns mehrere unterschiedlich lange Plexiglasplatten, auf denen vermutlich irgendein Text abgedruckt ist. Ich habe den Hintergedanken, vielleicht noch einmal mit der Vermieterin zu sprechen und zu einer Einigung dahingehend zu gelangen, daß ich alleine doch wohnen bleiben darf, daß für mich also eine Ausnahme gemacht wird, ein Vorzug.

Später laufe ich in einem Gewächshaus und bin ganz enttäuscht über die kurzen Strecken, und daß man sich auf so kleinem Raum ja unmöglich verausgaben könne. Fast ist es ein Traum, wo man nicht vorankommt, die Beine nicht vom Boden lösen kann. Dahinein mischt sich noch ein weiteres Bild, eine Frau in einem Bus auf dem Platz neben mir, eine Schwarze mit langem Kraushaar, sie weint, und ich versuche sie zu trösten, sie sagt, es ist nicht deswegen, es ist, weil sie Angst um ihren Job hat. Das ist mir unangenehm, ich weiß, daß ihre Angst berechtigt ist, und kann ihr nicht helfen, nicht einmal Mut machen.

Donnerstag, 20. August 2009

später

und plötzlich erwacht man und alles ist ein danach, ein später.

wohin man geht, ist garten, ist umgrenzung, rand. hof oder schatten, alles verweist selbst noch in der sonne und auf dem hügelkamm auf ein draußen, das hier nicht zu finden ist. aber auch nicht dort oder drüben, nirgends. draußen. damaliges außen. jetzt säuselt noch etwas hallendes, wie aus weiter ferne oder ferner zeit, oder einsam in einem großen, weiten und klingenden raum. und später, die zeit überreif verfärbt wie liegengelassenes obst, läuft von einem punkt weg, auf den sie, früher, davor, eben noch, wann? zugeeilt ist.

da wird der sommer zum abbild seiner selbst, zu einer geste, dahinter die jahreszeit und überhaupt jede zeit, verschwindet.

eingesperrt in den höfen die stille, die sich an einem augenblick im dunstigen mittag zu erkennen gibt. im verborgenen gewirkt, reif geworden, hat sie sich das alter früherer sommer, vergangener, zu eigen gemacht. so spricht sie mit den offenen schnäbeln der vögel, die zu schweigen verstehen. ein flattern im gesträuch, wippende äste. anwesenheiten. geschöpfe (oder geister?) die sich nicht preisgeben wollen. die beeren, ein leuchten von gestern. die amseln: als warteten sie auf ein signal. ein zeichen wofür?
wie aus papier stehen die straßen, ihre sprödigkeiten erzählen sich farben, die schon verblaßt sind. alles ist erzählung dieser tage. erinnerung an erinnerungen. das licht, wie es staubig von den fassaden zurückfällt, ist ein zitat, das glitzern auf dem ententeich ruft sich selbst in erinnerung, alles, was jetzt grün ist, verdankt sich einem vergessen. liegengeblieben das gelb des greiskrauts und des rainfarns an den knisternden wegrändern, die vergessen haben, wohin ging es noch gleich? unsichtbar an den kehren ein rascheln von schritten, das nie näherkommt und sich nicht entfernt. ein augenblick des wegsehens und die violetten tüten des riesenspringkrauts dürfen noch bleiben und bleiben übrig. vermutlich sind sie morgen auch noch da.
zwischen dem anhaltenden sonnenlicht und den gegenständen, die es zurückwerfen, verspinnt sich die erinnerung einer farbe, einer schwierigen farbe, der farbe nicht eines gegenstands, einer zeit selbst nicht, sondern die einer mischung, einer summe: die aller spät- und nachsommer, die schon gewesen sind, und die in jedem weiteren sommernachhall wieder zur sprache kommen müssen.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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Astartes Lächeln
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Daß alles für Freuden erwacht
Dem geschah auch Lieb durch Liebe nie
Die Stadt am Ende des Jahrtausends
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Nicht mit gar zu fauler Zungen
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