Urlaub?
Seit ich meine Eltern Jahr für Jahr miesepetrig aus dem Urlaub habe heimkommen sehen („das war's jetzt wieder für ein Jahr“ – Als müßten sie anderntags in den Knast oder ins Arbeitslager), stand für mich fest: Das machst du anders.
Sie blinzelten in die fremdgewordenen Räume der Wohnung, rissen Rolläden und Fenster zum Lüften auf und stöhnten über die Berge von Post, die eine Nachbarin auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Seufzer ausstoßend und mit den Zähnen knirschend räumten sie das Wohnmobil aus, ächzten verbissen durchs Treppenhaus, kratzten sich am Kopf, rangen die Hände über die eingegangenen Topfpflanzen, die gemahnten Rechnungen und den frischen Schimmel im Bad, räumten, fluchten, schüttelten den Kopf und saßen dann endlich inmitten von halb ausgepackten Taschen, Mitbringseln, Badematten, Wanderschuhen und Sandalen, an denen noch der feine Sand ferner Meere klebte, im Wohnzimmer, den Geruch von Fahrgastraum vertrömend, das Brausen der Autobahn noch im Ohr. Wehmütig öffneten sie eine Flasche mitgebrachten Rotweins und schwärmten bald von den wunderbaren Landschaften, durch die sie gereist waren, bald schmatzten sie genießerisch den ungewohnten Speisen der Fremde nach, bald wurden sie wieder trübsinnig und malten einander in den schrecklichsten Farben die Ödnis der bevorstehenden 11 Monate Alltags aus: Die Trübsal des Winters! rief mein Vater, Das triste Wetter! ergänzte meine Mutter, Die Scheißarbeit! stöhnte mein Vater, Die öden Supermärkte! das verschrumpelte Gemüse! beschwor meine Mutter die düstere Zukunft. Fassungslos alle beide: Vor nicht einmal 12 Stunden haben wir noch im Meer gebadet! Ach, und die französischen Pfirsiche! Jetzt litten sie unter ihrer Heimat, die ebenso flach wie meerlos ist, wie unter einer chronischen Krankheit, von der sie für kurze Zeit ein viel zu teures Medikament erlöst hatte. Die Heimat: Eine im Sommer feuchtheiße, im Winter feuchtkalte und ansonsten verregnete Ebene. Neubaugebiet, Gewerbegebiet, Industrieanlage. Der Himmel selten farbig. Selbst die Luft und die darin immerhin vorhandenen Amseln schien ihnen langweilig und widerwärtig zu sein. Besonders meiner Mutter: „Ich könnte auf dem Absatz kehrtmachen!“ rief sie mit einer Geste, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Man spürte, wie sie körperlich litt, an der Wohnung, an den Nachbarn, am Geruch der Zimmer, dem Ausblick auf die Fassade gegenüber, den trivialen Sonderangeboten im Discountmarkt und den Amseln, natürlich.
Man sah es ihnen an, daß sie im Stillen schon wieder den nächsten Urlaub planten, nach dem Wohnmobil schielten, das Jahr, 11 Monate, über 330 Tage, in einem Satz der Imagination übersprangen und mit dem Herzen schon im Juli des nächsten Jahres zu Hause waren. Mir aber schwebte schon damals etwas anderes vor, ein Leben, in dem jeder Tag zählt. Gelungen ist mir das nicht immer. Aber eins wußte ich: Ich würde nie zwischen Badelatschen und Reisetaschen in meiner Wohnung sitzen und fassungslos dem verschwundenen Paradies nachweinen.
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Talakallea Thymon - am: 13. Aug, 12:13 - in: post scripta
Die Stimmen damals waren wie von der Nacht eingefärbt. Dunkel. Weich von Samt oder von Wein. Gurgelnd von Geschichten, bei denen man die Stimme senken muß.
Ich erinnere mich an die Stimmen auf dem Balkon oder vor dem Wohnwagen. An Gespräche, die man nur mit diesen Stimmen führen konnte. An die selbstauferlegte Zurückhaltung. An die Töne, die sich wie feiner Rauch aus den Nüstern und Mündern der Sprechenden lösten.
Ich erinnere mich an die Sommernächte. Auf dem Balkon sitzen, ein Abendessen in der Dämmerung, noch ein Glas Limonade, bevor man ins Bett geschickt wurde, und die Stimmen, die kleiner wurden, kleiner und schmeichelnder im Maße die Nacht zunahm. Die Stille sog an diesen Stimmen, schliff und polierte sie, bis sie eine murmelnde Weichheit bekamen. Kerzenlaternen flackerten, Falter verbrannten knisternd, die Straßen waren groß und leer, leer und von Nacht angefüllt, und niemandem wäre es eingefallen, dagegen mit Lärm und Stimmgeschärf vorzugehen. Wenn meinen Bruder und mich die Lust ankam, die Nacht auf die Probe zu stellen mit Lautstärke und Tagesstimme, wurden wir unverzüglich zurechtgewiesen, psssssssst. Schschsche, machten die Eltern und fuhren fort, ihre nächtlich belegten Kehlkopfe rollen zu lassen. Kam man nochmal raus aus dem Bett, weil etwas drückte oder man Bauchschmerzen hatte oder Durst, so flackerten die Stimmen, wenn man das Wohnzimmer betrat, von draußen herein wie der Kerzenschimmer, ließen sich von diesem Schimmer tragen und von den Vorhängen verwehen, waren fast ein Flüstern, so leise, daß die Angst plötzlich kam: Sind die Eltern überhaupt noch da? Oder reden Geisterchen? Im Urlaub, wenn man beisammensaß, Eltern und Kinder, in früh hereingebrochener Südnacht, und alles so leise sprach, daß die Stimmen nie den Lichtrand der Lampe berührten, nie hinausdrangen in Wald und Schatten.
Heute gibt es keinen Abend mehr, keine Mittagsruhe, keine Nachtsamtigkeit, überhaupt Tageszeiten nicht. Die Stimmen sind überall und allzeit, abneds, nachts, egal, es wird geschrien als füchte man, daß einem die Stimme bald ausgeht. Als hätte man zuviel zu sagen für die eigene Lebenszeit, als müsse das alles noch, Nacht oder Tag, hinaus. Irgendwo übriggeblieben und wie Geister nirgends zu Hause, kennen diese Stimmen nur noch sich selbst und hören sich immer so an, als müßten sie sich selbst beweisen, daß sie noch da sind. In diese Stimmen prägt sich nichts ein, sie lassen sich nicht inspirieren, nicht dämpfen, nicht leiser drehen, da kann die Nacht noch so mild und schön sein, es kommt ihnen gar nicht der Gedanke, daß da noch etwas anderes ist, so etwas wie Welt, wie Schönheit, wie Uraltes, wie Ewiges. Eingesponnen in ihre eigene plärrende Banalität verstärken sie sich nur selbst, genügen sich selbst und klingen auch noch um Mitternacht so wie das Geschrei auf dem Viehmarkt, anmaßend, laut, selbstverliebt, ignorant.
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Talakallea Thymon - am: 11. Aug, 11:56 - in: O tempora, o mores!
In einem Gespräch über die Firma Manufactum widerspricht mir ein Freund, ich sei nicht konservativ, ich sei nostalgisch.
Nach längerem Nachdenken komme ich jetzt zum Schluß, daß er vielleicht damit recht haben könnte, daß ich nicht konservativ sei; unrecht aber hat er, wenn er mich nostalgisch nennt. Denn Nostalgie ist eine Haltung, die der Kapitulation folgt, eine Haltung der Resignation. Der Nostalgiker kann nur noch nachtrauern, er hat die Hoffnung auf eine Welt, die seinen Vorstellungen entspricht, und in der die Vorteile und Nachteile des sogenannten Fortschritts noch einmal neu abgewogen werden, bereits aufgegeben. Seine Haltung zur Welt ist melancholisch. Ich bin zwar auch Melancholiker; doch ist zwar jeder Nostalgiker auch Melancholiker, aber nicht umgekehrt. Wohl trauere ich einer verlorenen Welt nach, aber ich habe die Hoffnung auf Rück-Schritte in Richtung dieser verlorenen Welt (die Abschaffung des
Mobilfunks etwa oder ein generelles Autoverbot oder die Wiedereinführung des
Feierabends – statt die beste Zeit des Tages mit Geplärre und Gehaste zu entweihen) noch nicht aufgegeben. Und werde nicht müde, mit meinen Ansichten für diese Welt einzutreten.
Im Übrigen wären aus meiner Sicht solche Rück-Schritte keine Rückschritte, sondern Fortschritte. Die Wahrheit ist vermutlich, daß es einen Konservativismus gibt, der in seinem Beharren so weit zurückgreift, daß er schon wieder in die Nähe des Ultraprogressiven rückt.
von:
Unke - am: 29. Jul, 13:32 - in: O tempora, o mores!
Sommer ging zu zweit in die Felder, die Löwenzahnschirme
flogen um deinen Mund. Leer blies der Auster zurück.
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Talakallea Thymon - am: 28. Jul, 10:46 - in: An habent et somnia pondus
Steine warfen einander zu vom windigen Himmel.
Flucht in die Weite, noch nie waren die Türme so nah.
von:
Talakallea Thymon - am: 23. Jul, 13:26 - in: orte. wege
Einen Brief bekommen, der ein winziges Stück meiner Vergangenheit mit einm Schlage umdeutet: Die Zeit strömt zurück und gibt mir ein anderes Ich zurück, schenkt mir ein Selbst, dessen sie mich gleich wieder beraubt, und ich stehe voll Staunen vor dieser anderen Welt, diesem anderen Leben, das es so nicht gegeben hat, aber, wie ich jetzt weiß, hätte geben können. Mein anderes Selbst. Ich in Hannover oder so, oder nicht? Es ist im Grunde unbedeutend, denn kann man etwas betrauern oder als verloren empfinden, was nie war? Aufgewühlt lasse ich die Zeilen sinken, will den Brief verstecken, siebenmal zusammenfalten, ins Postfach zurücklegen, warten, daß er verschwindet, ihn ungeschehen machen, aber stattdessen lese ich es noch einmal und noch einmal, „Aber das hab ich dir nie verraten …“ während zugleich mein Herz in hilfloser Freude schlägt. Freude über eine Möglichkeit, nachgeholtes Entzücken und zugleich: Tiefe Trauer. Wir zu Jungen manchmal für das Alte / Und zu alt für das, was niemals war.
Ich erinnere mich, wie wir einmal einen Abend lang schweigend, einander betrachtend, lächelnd auf dem Sofa saßen, der eine hier, die andere dort, Eck zu Eck, und das ist jetzt alles in ein ganz anderes Licht getaucht. Was wäre gewesen, wenn ich geredet hätte? Oder schweigende Zeichen gegeben? „Aber das hab ich dir nie verraten …“ Ich fange von vorne an. Wie wir auf dem Ponton auf dem Rhein saßen, du still, ich und R. im Gespräch. Daß ich so wenig davon im Kopf behalten habe, das läßt mich verzweifeln. Wie blicktest du, wie war das Wasser, hattest du die Arme ums Knie? Schimmerte dein Haar unter den Laternen? Klar schimmerte es. Aber ich sehe nichts mehr, ich denk’s mir nur. Deutlicher: Auf dem Fahrradweg am Kanal, der Radfahrer von hinten, wie du mich, den Blick voll Achtsamkeit auf die Gefahr gerichtet, am Ärmel aus der Bahn zogst, kaum ein Ruck, so sanft. Die kahlen Bäume festgesteckt im Licht. Frühling. Wenn ich dir etwas erzählt habe, das du schon aus meinen Briefen wußtest, wie du sagtest: „Ich weiß“, dein Lachen dabei. Unser Lachen, wenn uns wieder dieser Fehler passiert war. Das alles muß ich jetzt neu lesen, meine Erinnerungen, die spärlichen, ungenauen, umschichten und prüfen und wenden und abtasten, wieder und wieder. In den Tag hinein, der voll ist von gräßlicher Tatsache, es ist nicht gewesen. Tatsache. Eines der vielen Versäumnisse, gehen und schaffen und denken und dabei nichts merken. Das Licht, die Schatten, die Sommerregen, alles voller gnadenlosem Heute, voller Versäumnis. Da hilft es nichts, sich zu sagen, besser so. Wäre ja doch nicht. Hättest nicht. Könnten nicht. Durfte nicht. Wir-haben-doch-die-Freundschaft. Unversehrt, heil geblieben – nein, hilft alles nichts.
Ich übertreibe, natürlich steigere ich mich hinein (und auch dieser Gedanke ist hilflos). Du hast nicht geschrieben, was ich fortspinne. Aber was du schreibst, es wäre der Anfang gewesen, hätte dieser Anfang sein können. Und wenn ich nun meinen Impulsen einfach nachgegeben hätte und mutig gewesen wäre? War doch sonst immer so mutig. Warum da nicht? Ich weiß es, weiß es nicht, weiß es doch, aber es kommt mir unverständlich vor, jetzt. Kann man etwas beweinen, das es nie gegeben hat, etwas, von dessen nichtexistenter Existenz man nichts wußte, bis jetzt? Man kann nicht. Man muß.
von:
Talakallea Thymon - am: 20. Jul, 11:48 - in: Wem nie durch Liebe Leid geschah
In der eigenen Wohnung mit nahezu schalldichten Ohrstöpseln hocken. Abgeschottet und selbst im Haus noch einmal im Käfig. Verriegelt und vergraben, vertrieben in noch ein kleineres und immer kleineres Reich, die Stille, die nicht weiter reicht als das zugepflasterte Ohr. Das Deprimierende dabei. Wie ich es hasse.
Nun natürlich auch das Rotkehlchen und die Mauersegler nicht mehr zu hören. Verstummt neben all dem Widerwärtigen auch die wenigen beglückenden Töne.
Einmal habe ich am Waldrand gewohnt, in der Annaberger Straße, in einem der letzten Häuser vorm Wald. Abends sang immer eine Singdrossel, als längst alle anderen Vögel verstummt waren. Immer dreimal die selbe Phrase. Tüdelüt Tüdelüt Tüdelüt ... didadiii didadiii didadiii ... Es war, als könnte sie die Zeit davonsingen, so lange blieb es Abend. Im Herbst und Winter rief ein Käuzchen die halbe Nacht lang, und manchmal kamen die Wildschweine heraus aus dem Wald und grunzten und schnauften und ließen Zweige knacken, so nah, daß es sich anhörte wie in der Straße, unterm Fenster.
von:
Talakallea Thymon - am: 6. Jul, 21:55 - in: Werke & Tage
Με μαύρον ήσκιον άγνωρον έπαίξ' η πεταλούδα ...
von:
Talakallea Thymon - am: 6. Jul, 10:13 - in: An habent et somnia pondus
In zwei Supermärkten heute morgen erfolglos nach Erdbeeren gefragt und bekomme schon wieder mittelschwere Zornesanwandlungen. Es soll Leute geben, die schon zum Frühstück Erdbeeren verspeisen, was diesen Menschen sicher niemand verübeln wird, die Saison ist schließlich kurz genug, Erdbeeren ein höchst schmackhaftes, weil ausnahmsweise mal reif vorliegendes Obst und gesund obendrein. Die übrigen Bestände an Gemüse und Obst waren ja auch schon da. Ich will aber keinen Rettich oder Broccoli zum Frühstück, ich will Erdbeeren! Der eine Supermarkt fällt mir schon seit längerem unangenehm auf: Eng, übervoll, steht man ewig an der Kasse, drängelt sich durch die Gänge, und außerdem kommt man morgens nicht an die Regale heran, weil alles voller Kartons steht und die Mannschaft mit Einräumen beschäftigt ist. Oft fehlt dann auch dies und das. Erdbeeren beispielsweise. Auch habe ich den Verdacht, daß die günstigsten Artikel immer zuletzt eingeräumt werden, jedenfalls habe ich nie erlebt, daß das teure S**tenbacher-Müesli fehlt, aber mehrmals mußte ich zähneknirschend auf meine anonyme Billigkörnermischung verzichten. Meiner Ansicht nach muß die Ware bei Öffnung des Marktes bereits tipptopp in den Regalen liegen, und zwar alles. Ich kann auch den anderen Fall nicht leiden, wenn abends bereits Stunden vor Geschäftsschluß das eine oder andere nicht mehr zu finden ist. Ich bestehe darauf, daß, wenn ein Markt bis um 22:00 geöffnet ist, dann auch bis um 22:00 jedes einzelne Produkt im Sortiment noch zu haben sei. Wenn sie das nicht hinkriegen, dann müssen müssen sie eben früher schließen und später aufmachen. So.
Aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß ich meinen Willen nicht gekriegt habe. Daß ich wieder dastehe wie Rumpelstielzchen und es mir gar nichts nützt, mich entzweizureißen. Daß solche alltäglichen, zahlreich quälenden Instanzen des kleinen Scheiterns einem das große Scheitern wieder allzu deutlich zu Bewußtsein bringen.
von:
Unke - am: 30. Jun, 10:09 - in: O tempora, o mores!
Die Revolution fand still und leise statt. Niemand sprach darüber. Niemand protestierte. Die Nachrichtensender wußten von nichts. Keine Talksendung nahm sich des Themas an, keine Zeitung berichtete. Die Menschen schwiegen und schauten weg, wenn sie denn überhaupt bemerkten, was los war. In aller Heimlichkeit vollzog sich die Wende.
Wann genau es passierte, weiß man nicht. Aber es muß sehr schnell gegangen sein. Im Sommer 1997 war noch nichts zu bemerken gewesen, doch als ich im Herbst 1998 von einem längeren Auslandsaufenthalt wiederkam, da war schon alles vorbei und überall stillschweigend beschlossene Sache. Niemand hatte widersprochen. Alle fügten sich.
Fügten sich wem?
Es gehört zu den ungeklärten Fragen der Massenpsychologie, wieso plötzlich Millionen Menschen, die einander nicht kennen, sich nicht absprechen, ihre Meinung nicht austauschen, quasi unabhängig voneinander den selben Gedanken haben können. Wie plötzlich Millionen Frauen im Verlauf eines einzigen Jahres gemeinsam aber jede für sich beschließen: Ab sofort rasiere ich mich unter den Armen. Ab sofort sind Achselhaare bäh. Ab sofort waren Achselhaare eigentlich schon immer bäh.
Staunte man vor diesem entscheidenden Jahr über eine rasierte Achsel, während selbst der üppigste Unterarmbusch niemandes Aufmerksamkeit erregt hätte, so war es jetzt umgekehrt. Achselhaar sah man nicht mehr, und wer es dennoch trug, war eine Ausnahme und fiel auf. Nur ich hinkte meiner Zeit hinterher, weil ich nicht in Deutschland gewesen war, als sich die Verhältnisse änderten. So sprang mir umgekehrt, gleich einem Zeitreisenden, nicht das selten gewordene, für mich noch normale Haar, sondern das plötzliche Fehlen desselben sogleich ins Auge. Es war Winter, und der Anblick entblößter Achseln eher selten. Aber nachdem ich im Frühjahr die dritte, die vierte blanke Axilla erblickt hatte, wunderte ich mich; und mit steigenden Außentemperaturen begriff ich allmählich: Entscheidendes mußte sich während meiner Abwesenheit getan haben.
Gab es eine prominente Vorreiterin? Waren die deutschen Frauen sich plötzlich bewußt geworden, daß in anderen Ländern andere Sitten herrschten? War es ein Komplott der Kosmetikindustrie, die rasanten Absatz an Wachs, Klinge und Depilator erwartete? War es ein fixe Idee gelangweilter Frauenzeitschriftredakteurinnen? Hatte das Gesundheitsamt Bedenken angemeldet? Schwappte wieder mal eine Welle aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu uns über den Atlantik? Oder war es das alles zusammen?
Ich war erschrocken. Ich kann nicht sagen, was mir besser gefällt, Glätte oder Busch, beides hat etwas. Ich kann es wirklich nicht sagen. Irgendwie finde ich aber, daß Natürlichkeit die Regel, Künstlichkeit die Ausnahme sein sollte. Da ist es mit dem Rasieren weiblicher Haare, wo auch immer sie wachsen wollen, ebenso wie mit Schminken, Färben, Lackieren, oder dem Auftürmen rätselhaft-komplexer Frisuren. Doch meinetwegen: Das Unveränderte ist zwar immer noch am schönsten, aber der Abwechslung zuliebe kann auch geschmeidige Glätte an der einen oder anderen Körperstelle gefallen. Oder praktikabler sein.
Doch störte mich weniger die Tatsache der Achselhaartilgung an sich, sondern was mich so erzürnte, das war die stillschweigende Übereinkunft, mit der so plötzlich auf breitester Front gegen dieses Naturreservat vorgegangen wurde. Denn eine Vorliebe wie jene plötzlich Aufgekommene ist ja nicht voraussetzungslos, und da sie mir in engem Zusammenhang einer allgemeineren Künstlichkeitsanbetung zu stehen schien, und auch, weil so etwas kaum umkehrbar ist, machte mich diese Übereinkunft rasend. Von wem ging das jetzt wieder aus? Reichte es nicht aus, daß diese armen Geschöpfe sich förmlich zu Tode hungerten, nur weil ein paar nekrophile Modehengste das hip fanden? Da schien sich doch wieder einmal die eine Hälfte der Menschheit einem absurden, nicht lokalisier- oder auch nur benennbaren Zwang zu beugen – und glaubte auch noch, sich in Freiheit dafür entschieden zu haben! „Mir gefällt das Haar nicht“. „Nö, finde ich häßlich“. „Blank gefällt mir einfach besser“. „Man schwitzt nicht so“. „Ich brauche weniger Deo“. „Ich würde mich auch enthaaren, wenn es sonst keine täte“. „Aber … das haben wir doch schon immer so gemacht!“
Ja, Pustekuchen.
Wie sehr kann einem die Erinnerung einen Streich spielen? Kann man einen Zwang so sehr verinnerlichen, daß es unvorstellbar scheint, daß er nicht schon immer geherrscht hat? Und wenn es so vernünftige Argumente wie vermindertes Schwitzen und größere Deo-Effektivität gibt: Warum hatten die Frauen dann nicht schon von je zur Zuckerlösung gegriffen?
Aber es ist wohl zwecklos zu jammern. Ja, wenn man genau hinschaut, dann ahnt man: es kommen noch härtere Zeiten. Schon hüpfen die ersten Jungmänner blankachselig im Freibad umher. Demnächst zupfen die sich auch noch die Augenbrauen.
Und am Ende kommt es noch so weit, daß ich mir ein Deo anschaffen muß.
von:
Unke (importiert durch
Talakallea Thymon) - am: 27. Jun, 09:53 - in: O tempora, o mores!
Το πάθος της αναμονής ...
7 Jahre schreiben
7 Monate und 7 Tage Verspätung
777 Seiten
Am Montag erscheint Band zwei der Trilogie "Με το παράξενο όνομα Ραμάμθις Ερέβους: "Το Πάθος Χιλιάδες Φορές" von Zyrana Zateli.
von:
Talakallea Thymon - am: 25. Jun, 22:19 - in: Werke & Tage
Jeden morgen jetzt ein bis vier schulklassen am bahnsteig: seit ende der osterferien schon in vollem gange, erreicht die ausflugstätigkeit der schulen dieser tage ihren höhepunkt. ich beginne zu begreifen, warum man sich allerorten über das achtjährige gymnasium (großspurig auch schonmal mit G-8 bezeichnet) zu beklagen beliebt. wie sollen die armen schüler das auch alles schaffen, wo sie doch zwischen ostern und den sommerferien so viele ausflüge machen müssen?
von:
Unke - am: 25. Jun, 09:53 - in: O tempora, o mores!
Eine Geschichte wohnt nicht im großen Ganzen. Sie wohnt in kleinen und kleinsten Szenen, Blicken, Worten, Berührungen. In hunderten solcher.
Habe längst den
Faden verloren.
von:
Talakallea Thymon - am: 24. Jun, 09:49 - in: Tagewerke
Vögel entsangen die Zeit ihrer Fesseln, sie stießen den Tag ins
Immer. Die Sonne am Pol brachte den Himmel zu Fall.
von:
Talakallea Thymon - am: 21. Jun, 10:05 - in: Werke & Tage
Zehntausend mal das Aufgeben auf den nächsten Schritt verschieben. Zehntausendmal einen schaffst du noch. Zehntausendmal den Schmerz in der Wade ignoriert, literweise Luft eingesogen, nie genug bekommen; zehntausend Schritte lang die
Distanz abgewetzt, so langsam wie mit der Feile, mit der trockenen Zunge abgeraspelt, Kiesel für Kiesel den Staubweg aufessen und schlucken müssen, und immer mehr Schritte vor sich angehäuft, steil aufgetürmte Schritte, der Weg hart, eine Mauer, die sich auflehnt, die es persönlich nimmt, die dir gegen die Schienbeine tritt. Sich ein Gedicht vorsprechen, drum, will schon unsrer Sonne Wagen/nicht halten, wollen wir ihn jagen, im Jambus weiteratmen, nicht genug Luft um einen herum, und weiterhetzen. Wollen wir ihn jagen. Zehntausend Schritte hinter einer imaginären Antilope herhetzen, selbst der Gehetzte sein dabei. Und dabei von
flotten Mädels ein ums andere Mal überholt werden. Zehntausend Schritte Schande. In die dritte Runde (von vieren) laufen und über Lautsprecher hören, daß schon der erste Läufer das Ziel erreicht hat. Demnächst Siegerehrung. Ein Name über Lautsprecher, der nicht der eigene ist. Denken, beim Weiterlaufen, verdrossen, du bist eine Null, ein Nichts, ein Würstchen. Auf Wurstbeinen weiterlaufen, auf gegrillten Wurstbeinen, was gut zum Geruch paßt, der über dem Ufer des Aachener Weiers liegt, auf verkohlten Wurstbeinen, schließlich auf Wurstbeinen ohne Gefühl, Leberwurst, zum Streichen. Sich wehren gegen die Wahrheit eines jeden Wettkampfs, gegen den Truismus, wer nicht gewinnt, hat verloren. Zehntausend Schritte denken, es geht vorbei und den Weg ein- und ausatmen. Sonne ins Gesicht bekommen, für Momente zu fliegen glauben, bergab jetzt. Drum, will schon unsrer Sonne Wagen. Dreimal die Sambatruppe an der Steigung. Oder war es doch erst zweimal? Plötzlich Panik in der vierten Runde, war das das vierte Mal Samba, bin ich schon durch oder muß ich doch noch eine? Man müßte jetzt die Beine in die Hand nehmen können und einfach hinübertragen. Man müßte diesen Unsinn einfach vergessen. Hinausgewunken werden, damit man die Zielgerade und das Pfeifen der Matte nicht verpaßt, das fehlte noch. Zehntausendmal versuchen, den Unsinn zu vergessen, zehntausend Schritte, zehntausend Meter, vier Mal um den Weiher, sich selbst zuschanden geritten sich selbst besiegt und dennoch verloren haben, das macht, das waren: 00:44:33.

von:
Talakallea Thymon - am: 18. Jun, 12:55 - in: orte. wege
wird alles anders!
von:
Talakallea Thymon - am: 5. Jun, 22:38 - in: Werke & Tage
Oft wird von den Zeitungen der Fehler begangen, Albernes, Triviales, Lächerliches oder schlichtweg Dummes als albern, trivial, lächerlich oder dumm zu bezeichnen. Damit tappen sie in die
Aufmerksamkeitsfalle. Indem nämlich etwas in den
Feuilletons besprochen wird, das dieselben Feuilletons als Unkultur zu brandmarken sich anschicken, sagen wir etwa die neuesten Ausgeburten bei RTL („
Erwachsen auf Probe“), wird es ja erst ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, und darf sich, solcherart ernstgenommen und besprechungswürdig, in den kulturellen Diskurs aufgenommen wissen, gehört nun zu den Gegenständen-die-im-Feuilleton-stehen. Was in der Zeitung steht, ist immer geadelt. Da ist es zweitrangig, ob diesem Buch, jener Sendung, jener Ausstellung, Lob, Tadel oder sogar rundweg Ablehnung zuteil geworden: Durch die Gnade der Aufmerksamkeit wird, was man als Unkultur anprangern wollte, gerade erst zur Kultur erhoben. Damit stellt sich jede Kritik der Verdammung, und sei sie noch so berechtigt, selbst ein Bein. Aber muß ein Feuilleton alles wahrnehmen? Wer dem Dilemma entgehen will, dem bleibt doch eins: Das Ärgernis gepflegt zu ignorieren und aus dem kulturellen Diskurs auszuschließen. Nicht als Abstrafung, weit gefehlt. Sondern weil es den Feuilletonleser, der sich an dieser Stelle lieber eine Buchbesprechung oder eine Theaterkritik wünscht, einfach nicht
interessiert. Ich würde mir wünschen, die Zeitungen übten manchmal vornehme Zurückhaltung und wählten sorgfältiger, was sie überhaupt einer Erwähnung für wert erachten wollen. Damit träfen sie eine Entscheidung und zeigten Profil. Hätte nicht wenigstens
eine Zeitung zum sogenannten Jahrtausendwechsel schweigen können? Oder zur Fußballweltmeisterschaft? Manche Dinge, will mir scheinen, wären in den illustrierten Wochenzeitschriften besser aufgehoben.
Sollte andererseits, was in diesem Fall nicht abwegig scheint, der Unsinn ein gefährlicher sein, dann muß wohl die Stimme erhoben und kritisch kommentiert werden; das ist in diesem Fall aber eher Aufgabe des Kinderschutzbundes, nicht der Feuilletons.
von:
Unke - am: 5. Jun, 20:01 - in: O tempora, o mores!
Die älteren Schwulen, die jeden Morgen einander und den
öffentlichen Bücherschrank in der Poppelsdorfer Allee belauern. Der hoffentlich haltlose Verdacht, sie könnten die Funde später in ihren Antiquariaten
verkaufen.
von:
Unke - am: 5. Jun, 09:55 - in: Werke & Tage