Dienstag, 17. Januar 2006

kall/gemünd/mechernich

kurz nach der wegekreuzung mit der hütte am schneeweiß wölbt sich zur rechten baumfreie heide, und inmitten gesträuchs, strähnen vergilbten grases, gebleichter holzstümpfe, flächen gefrorener tümpel, schiebt sich backstein aus dem boden, von grassoden wie von filzigen haarflechten bedeckt, von grüngrauer erde umflankt, als sei der gemauerte stein wie ein pilz eine wurzel ein troll aus dem grund emporgewachsen. eine tür starrt verschlossen und rostig halb zum weg. eingekeilt zwischen erde, gras, geäst und himmel sind die sturen linien des quaders dem ort fremd. fast ein geräusch, ein gefährliches summen: aber alles ist still, lauscht man hin. nur eine säge, andererseits, eingraben in die baumesstille; hinter dem hügel spannt sich die siedlungsgefleckte weite.
von dort ist es noch eine halbe stunde bis gemünd.

Mittwoch, 11. Januar 2006

aufmerksamkeit

Irgendwo hier im gebäude klappert es, wie wenn ein blech, eine lüftungsklappe, eine blende herumschlägt. hotmail bietet mir einen intelligenztest an, dessen erste aufgabe darin besteht, die tokens des buchstaben „f“ in einem kleinen text zu zählen. laut ergebnis bin ich ein genie, aber ich kannte den test schon. unter den biographien der woche sind vier angeblich berühmte menschen (von zehn), von denen ich noch nie etwas gehört habe, nicht einmal den namen: Lance Armstrong (schon mal gehört), Osama bin Laden (weiß, wer das ist), Jan Ullrich (schon mal gehört), David Beckham (?), John Travolta (schon mal gehört), Christine Licci (??), Daniel Radcliffe (???), Charles Augustus Lindbergh (jau!), Ronaldinho (??!??), Thomas Gottschalk (ach ja). außerdem ist eine person namens Kylie Minogue (??????), die ich ebenso wenig kenne wie Ronaldinho (??!??), in ein anderes Krankenhaus verlegt worden. jemand schlägt mir vor, ich solle meine freunde neidisch machen, indem ich ihnen ein photo von mir ganz entspannt in einem liegestuhl sitzend und einem „flirt an der hand“ präsentiere, ein anderer möchte unbedingt, daß ich abnehme, und die huygenssonde könnte vielleicht leben auf dem titan gefunden haben. ich putze meine brille und sehe aus dem fenster.
Der horizont umschließt die stadt mit hartem wolkengriff. regen zieht dünn und leise herab, leute ducken sich unter regenschirme, reifen rauschen. nässe läuft dunkel über plakatwände, läßt strände, flugzeuge, parfumflakons, mobiltelephone, wellnesshotelanlagen (???!!?) aufquellen. aufmerksamkeit ist ein seltsamer vorgang. wenn ihre freunde sie jetzt so sehen könnten. das auswählen wird immer schwieriger. unsere instinkte sind nicht auf ignorieren programmiert, das macht die sache im falle unerwünschter information, die gleichwohl alle scheinattribute hochwichtiger information an sich trägt, lästig. andererseits wäre unser gehirn, wollte es allem die gleiche aufmerksamkeit zollen, völlig überfordert. also ist auch das vergessen, wegsehen, ignorieren programmiert. die frage ist, worauf man sich konzentrieren will, und unter welchen umständen es gelingt. Da gehe ich tag für tag an einer bestimmten glastür vorbei. an dieser glastür klebt eine idiotische mobilfunkwerbung mit einem völlig albernen text, so albern, daß ich mir vornehme, diesen text nicht mehr zu beachten. nehme mir vor, diesen text abzustrafen mit mißachtung.
es gelingt aber nicht. jedesmal aufs neue bleibe ich dran kleben, und merke es erst, wenn ich schon dabei bin, den text zu registrieren. ab jetzt gibt es kein bafög mehr. es sei denn, sie telephonieren gern. lassen sie die pfunde purzeln. nein, ich will keine pfunde purzeln lassen, und ich will auch nicht teuer dafür bezahlen, daß ich gratis telephonieren darf. ich will nicht einmal diese aufforderung bewußt zur kenntnis nehmen. aber wie kann ich das? die schwierigkeit besteht wohl darin, einen reflex zu unterdrücken. reflexe sind unmittelbar, sie setzen kein bewußtsein voraus, sie sind von einem willen unabhängig. zeigt mir jemand eine überdimensionale nackte weibliche brust – ich bin nicht der, dessen instinkte darauf nicht reagieren (dem himmel sei dank). einmal aus dem augenwinkel erhascht, und schon hast du hingeschaut. scheinattribute hochwichtiger information. das geht ohne jede tätigkeit der großhirnrinde, dazu reicht derjenige teil unseres nervensystems, den wir mit den reptilien (1) gemeinsam haben. schlimmer noch, die großhirnrinde kommt bei diesem vorgang erst gar nicht zum zuge. die großhirnrinde reflektiert das geschehen höchstens aus der retrospektive und schreibt dann einen weblogeintrag darüber. dann ist es aber schon zu spät, und man hat den artikel, der mit den brüsten beworben wird (wahrscheinlich ein auto, oder ein reisebureau oder eine versicherung, es gibt ja so vieles, was man mit einer weiblichen brust assoziiert) schon abgespeichert.
dennoch lassen sich reflexe beeinflussen, lassen sich unterdrücken oder konditionieren. doch was, wenn der reflexauslösende reiz jeweils ein anderer ist? und möchte ich wirklich meinen brüstehinguckreflex in einen brüstewegguckreflex umkonditionieren?
eine andere möglichkeit wäre natürlich, den kanal, auf dem die aufmerksamkeitsforderung zu uns gelangt, zu meiden: keine zeitung, kein fernsehen, kein kino, kein büdchen, radio auch nur bestimmte sender, internet? um himmels willen. also verzicht auf alles, was man heute so schön „die medien“ nennt. aber das reicht nicht.
denn ganz zu schweigen davon, daß ich ja auch von bestimmten infomrationen abhängig bin: die aufmerksamkeitsforderungen werden überdies noch überall gestellt, nicht nur in bestimmten, umgrenzten und daher vermeidbaren bereichen, sie sind ubiquitär. straßen, busse, bahnen, öffentliche gebäude, plätze, parkanlagen, ja, häuserwände, ja sogar die luft ist potentieller aufmerksamkeitsforderungsraum. brüste prangen auf zeppelinen, prickelnder bierschaum ergießt sich von betonwüsten herab, ein sinnlicher mund leckt kondenswassergetrübtes speiseeis vom straßenbahnrumpf. Abgesehen davon, daß auch auf unverdächtigen kanälen plötzliche, ungesuchte information sich anheischig macht, unsere aufmerksamkeit einzufordern. man kann ja nicht einmal ein taschenbuch zur hand nehmen, ohne hinweise auf weitere publikationen des verlags registrieren zu müssen. man kann nicht einmal eine fertigpizzapackung aufreißen, ohne mit superlativen und imperativen bedrängt zu werden (versuchen sie doch auch mal unsere köstliche …). ja, noch schlimmer: manchmal wird auch das bedürfnis nach echter information heimtückisch ausgenutzt, indem beispielsweise eine nachrichtenmeldung im internet beim anklicken zunächst auf eine weitere werbeseite mit leicht variiertem angebot führt, ehe nach nochmaligem anklicken der gewünschte artikel erscheint. oder suchmaschinen blenden perfiderweise passend zum suchbegriff werbeanzeigen ein.
wäre das werben, das buhlen um aufmerksamkeit, auf vorhersehbare kanäle beschränkt, wäre es nutzlos. werben funktioniert durch die beständige unerwartete bestürmung unserer sinne. unsere aufmerksamkeit muß im handstreich genommen werden. es darf dem betrachten keine entscheidungsfindung seitens des betrachters vorausgehen. denn wer würde eigens eine entscheidung fällen, um ein werbeplakat betrachten zu dürfen?
ich nehme mir vor, wegzusehen, mehr noch, als ich das wohl schon lange gewohnt bin; manchmal habe ich sogar erfolg: ich habe es tatsächlich geschafft, nicht mitzubekommen, wer dieser Ronaldinho ist. oder sollte man eines tages mit mobiltelephonen photographieren können – es dränge diese neuigkeit mit jahrelanger verspätung zu mir durch.


(1) In streng kladistischer formulierung müßte ich natürlich so etwas wie non-avian, non-mammalian amniote“ sagen, aber ich denke mal, die leser und leserinnen wissen, welche lebewesen ich meine.

Dienstag, 10. Januar 2006

...

ich komme allmählich dahinter, trage mir den berg an unklarem und nebelhaftem ab, um dahin vorzudringen, wo klein und hart und tief eingebettet in wirres gefühlsgewebe der schmerzenskristall liegt. ihn freizulegen. ihn herauszupräparieren. dann zu sehen, was daraus folgt oder wie sich weitermachen läßt. gestern nacht auseinandersetzung und ringen mit meinem tagebuch und der sprache und mir selbst.
mir sind zweieinhalb jahre abhanden gekommen. die fehlen nun. die sind nicht mehr mein. und jeder neue tag, jede neue stunde fängt mir völlig bedeutungslos aus einem namenlosen nichts heraus an. die zeit wurzelt nicht. ich bin zeitwurzellos. meine lebenszeit kommt nirgendwoher, sie ist plötzlich da, tritt auf, einfach so, verfügbar, transparent, blutleer, zu allem befähigt und zu nichts fähig. sie hat keine geschichte und keine herkunft und überläßt mich einer öden freiheit, die, statt mich zum handeln zu bewegen, mich bewegungsunfähig macht.

Montag, 9. Januar 2006

arztbesuch

am freitag doch noch zu kreuze und zur ärztin gekrochen; die mir, nach einem flüchtigen blick ins ohr, wozu ich sie gar nicht ermutigt hatte, erklärte, sie wolle mir mal die ohren durchspülen, sonst würde ich nichts mehr hören, wenn ich das nächste mal baden ginge.
wie bitte?
unverschämtheit – wenn ich dusche, dann richte ich den strahl immer direkt in meinen prachtvollen gehörgang und spüle gut durch, aber taub werde ich davon selten. eigentlich nie. und vom schwimmengehen auch nicht. oder wollte sie damit von hinten durch die brust ins auge andeuten, ich hätte wohl schon lange nicht mehr gebadet? weil es andernfalls ja nicht sein könne, daß ich überhaupt noch höre? unverschämt. außerdem war ich ja gar nicht wegen meiner ohren da, denen geht es, wie gesagt prima, und hören kann ich auch, danke schön!, sondern wegen meiner entzündeten kiefernhöhlen. wie es in meinen ohren aussieht, geht füreinmal niemanden etwas an.
und wie das sonst so ist mit ärzten: du gehst hin, sagst, du hast bauchweh, sie fühlen an dir rum, machen sich ein paar notizen, stellen ein paar fragen, setzen eine vorwurfsvolle miene auf und sagen dir dann auf den kopf zu, daß du bauchweh hast. bravo. so auch jetzt wieder.
„was führt sie zu mir?“
„meine kiefernhöhlen sind entzündet“
„schmerzen?“
„ja“
„beim vornüberbeugen?“
„besonders“
„pochen?“
„auch“
„dann mach ich mal ein ultraschall“
(macht ein ultraschall)
(mit vorwurfvollem gesichtsausdruck) „herr öhlbär, ihre kiefernhöhlen sind ja entzündet!“.

ach nee.
ich meine, also ehrlich.

Freitag, 6. Januar 2006

fast schon ...

viertel vor drei termin.

medizin fängt an zu wirken.

die myrte still und scharf der kampher weht.

lüftung klappert.

himmel ist immernochgrau.

kaffe brodelt in den venen.

doppelpunkt blinkt tapfer gegen die zeit.

fast schon ein vormittag gewesen

Montag, 2. Januar 2006

...

während draußen der schnee schmilzt und die papiermatschbraunen straßen aufblicken zum blaßblaugepusteten neujahrshimmel, liegen wir in den decken und zerwühlen die wärme mit füßen und ellbögen.
draußen schweres getropf. ab und an kracht ein böller. die sonne glänzt auf der kiefer im garten. der kühlschrank summt. wir schweigen und atmen.
„du bist wie …“ will ich sagen, doch sie schließt mir mit einem kuß den mund und das wort (und den gedanken auch).

du bist wie warmes karamell.

Sonntag, 25. Dezember 2005

...

du altgewordne zeit
steingewordne stunde
tritt über tritt
felsgewordnes jahr
wohin man sieht
hab ich was erzählt was hab ich erzählt
du alte zeit
wohin man die träume richtet
du uralte zeit
du steingewordne stunden
verloren hab ich den
lachenden mund an die
räuberische jugend
du uraltalte zeit
du steingewordnes
lächeln

Donnerstag, 22. Dezember 2005

III

sieh, was da ist. nimm einen kiesel aus dem bach, steck ihn in die tasche, trag ihn herum, bis er sich in die furchen deiner haut eingepaßt hat, bis er dein ist. nimm das licht aus dem gatter der zweige, häng es dir über die schultern, trage es. streiche die SCHWACHEN STUNDEN glatt. falte daraus ein knisterndes origami. und so tu es mit allem.
verwandle es.
vertraue dich dem gedanken an: du hast kein heim. daran erstarke.

die nächte tragen mal um mal masken vorm antlitz. wenn du nicht darunter blicken kannst, gib ihnen namen. (Träumerin, Muse, Göttin, Frevlerin, Täuscherin, Trost, Zorn, Keusche, 'Eωσφόρa …)

nimm den duft der blumen, berühr ihn mit der zungenspitze. fahre dem schatten einer rose nach mit dem großen zeh. (lerne, selbst einen schatten zu werfen? ja.) schnuppere an den wasserlichtern auf dem tisch. laß dich in einem tautropfen zerkrümmen. konvex und konkav, überlege, was was war. hole atem, als trügest du einen lateinischen vers vor: mit staunen.
so viel leichtsinn braucht es mindestens. wenn du müde bist, so fordere den schlaf.

Mittwoch, 21. Dezember 2005

Solstitium

rückwärts das licht in die zukunft entwerfen

vorgestern wird sein wie
übermorgen einmal
war alles kehrt
wieder nichts bleibt wie es
war einmal solange bis
alles wiederkehrt wie
es einmal nie
gewesen vorwärts

das licht

ins gestern
tragen

Dienstag, 20. Dezember 2005

Sæby (1)

(Alouette, gentille Alouette …)

erinner dich an jene stunde.

erinnere dich an hütte, fenster, wald. an die dunkelheit, die gegen das fensterglas anstieg, an die dunkelheit, die kühl und ein wenig fremd unter deinen fingerspitzen kribbelte. an die andersseitige dunkelheit, den weiten raum, die verhüllten kiefern. an die dunkelheit, die den gesang barg, freigab und dann wieder in sich zurücknahm.
erinnere dich. du warst das. du standest am fenster, du preßtest die nase an die scheiben, du hörtest die stimmen, wie sie jenseits sangen und verklangen, die leuchtenden stimmen.
(Alouette, gentille Alouette …)
da beugtest du dich vor, atmetest einen nebel aus, stießest mit der nase gegen die nacht draußen und wußtest nicht ein noch aus vor schönheit. du hattest noch keine worte, alles stellte sich unmittelbar vor dir auf, wuchs dir
(Alouette, je te plumerai …),
direkt ans herz, und doch … und doch … (je te plumerai la tete …) fühltest du damals schon, daß du nicht ganz warst. daß die schönheit von dir getrennt, dir entfremdet war. wem hättest du es sagen können? im nebenraum, meilen entfernt, schliefen die eltern, denen du es am morgen erzähltest. aber hatten sie denn verstanden? hätten sie es dir deuten, hätten sie es dir auflösenkönnen? du fragtest sie nach dem lied, summtest es ihnen vor, glaubtest, es damit erworben und beherrscht zu haben, wenn du nur einen namenhättest. als könntest du dem schönen näherkommen, indem jemand das lied für dich sänge, wieder und wieder! als könntest du das schöne begreifen, wenn es wiederholbar geworden wäre … doch in demselben augenblick, da du
(Alouette? – Alouette!, Ooooh …),
da du begriffst, daß es schönheit gab, spürtest du schon ihre unerreichbarkeit und den schmerz, und auch, daß du allein sein würdest im angesicht des schönen. und später:

da erfandest du worte: behelf, meßgerät und prothese. aber näher würdest du ihm niemals kommen.

Montag, 19. Dezember 2005

carmen nuptiale (cum grano salis ...)

si quis crediderit gravi sua spe
vobis condere me bonam camenam
dicendam mihi nunc benignam in aurem
vobis, cara tibi, Olga Joeque care –
qui, dico, facere hoc putaverit me,
multum erraverit: heu! meam camenam
di perdunt neque perlegemus umquam!
res se nunc ita habet : caretque egetque
verbis vester amicus atque luget:
nam me deficiunt deae scelestae,
musae Kalliope atque quae vacillat
Euterpe. mihi nunc quid est fatendum?
vobis gratuler ut? modo iocer quo?
vobis blanditiasque conferam quas?
quonam denique glorierque verbo?
plenum hoc ingenium est aranearum!
at iam tempus adest et in patellis
fervet sorbitio merumque mulcet.
pro verbis placeat rubore vinum:
dicendi satis atque nunc bibendum!

II

ihr tauftet die dinge

priesterinnen des wortes
kalligraphische tänzerinnen
tönend grammomorphe nymphen

alles trug schon mehrere namen

ich drehte den stein um
ich leuchtete die schatten aus
ich zerdrückte die davoneilende assel
ich riß dem fliehenden vogel
eine feder aus seinem schwanz
ich grub mein messer in die triefende borke
brach ast und knochen
schöpfte das naß
brannte einen felsen nieder
meißelte gekritzel in den stein
(doch sah ich wieder hin
stand dort immer nur
mein eigener name geschrieben)
durchbohrte den fisch
preßte die blumen
drückte trauben zu brei

und das buch
ächtete ich
den faden
zerriß ich
den herrlichen stier
verschnitt ich

während ihr lauschtet

(den dingen
und was sie euch erzählten)

und dann tauftet ihr sie

Donnerstag, 15. Dezember 2005

I

man muß sich nicht immer als reibefläche erweisen. es ist immer noch träumbar, sich unter die sonne zu beugen und sich so dünn zu machen, daß man zwischen zweimal luftholen weite räume aufstieße. träumbar, zu verschwinden in den spalten zwischen dem gras, oder in die poren eines steines sich aufnehmen zu lassen.
das licht ist ja unüberwindlich. die amselgesänge grausam und schön, und jahr für jahr kehren sie wieder. nur eines ist noch schlimmer als ein sieg, und das ist die niederlage. ich empfinde es als zumutung, daß ich sterben muß. es gibt nur eines, das schlimmer ist als sterblich zu sein, und das ist die unsterblichkeit.
es bleibt immer aufgabe: ins reine kommen mit dem eigenen. den finger befeuchten, in die träume halten und prüfen, wo das meer liegt.
sich verneigen gegen die richtung, in der einst das zu wagende lag und dreimal mutabor rufen.

...

s
o viel tagessteine und jahresringe ich mir auch angehäuft hab, zum blumenstolz meiner fußspuren, ich kann die stimmen, die

sirenenstimmen

nicht niederleben. doch auch das bescheidene wachs ist mir gällig, das machen, das machten andere zuhauf zuunwerthauf, das ist nicht meins, lieber, ja, lieber zerschellen und stolzes unglück tragen wie ein prachtgewand.
hab mich doch einst, wiedergekehrt aus der stadt am ende des jahrtausends, nach leidendem mute benamst. nun will ichs dulden.

immer mehr himmel fahren sich auf, und sind immer fremdere himmel. ich kehre zu den fernen inseln zurück, unerreichbar wie je, kythera, thule, ogygia, doch nun tragen sie andere masken vor den lieblichen gestaden. ich kenn sie ja gar nicht. selbst die phantome wechseln das antlitz. frei zu sein glaubte ich. nun hat mir ein dieb nächtens die träume gestohlen, sie weitergeschenkt, vergraben, in göttereschen gehängt, nun bin ich ohne sie frei. bin so schrecklich frei, daß ich gehen kann, wohinimmer ich will. ich schmecke den pollen, ich sehe die weite, ich verachte das wetter, ich stemme die wolken, ich höre die stimmen, neue und neue, ich muß es dulden.

auf dem weinfarbenen meer.

...

in den tiefen fältelungen einer lang nicht getragenen jacke: finde ich heute morgen unter vielen zetteln, leihquittungen der bibliothek im schumannhaus (mozart orgelwerke, vivaldi concerti grossi, widor orgelwerke), kassenzetteln von edeka (milch, pepperoni mild, hefe, mehl, wein) auch die quittung. café ehrenstraße. 02.01.2002. zweitausendzwei. ich muß nicht lang überlegen, ich gehe ja nie in cafés.
um mich ein bißchen selten zu machen, hatte ich das institut gemieden und die mail an o. von einem internetcafé aus geschrieben. bis zur verabredung hatte ich nun noch zwei, drei stunden zeit, die ich nicht wußte, wie füllen. was zu denken war, war alles bis an die grenze der angst gedacht, was zu hoffen war, gehofft, nun ging das bangen los, wohin mit all dem in den drei stunden, bis ich das jüngste vom tag zuvor (orgelflimmern im dom, seil ohne bahn, frühstück, dann die blaue kälte über den schnurgeraden wegen im königsforst, der mann mit dem opi-parfum, die getrennt frierenden handpaare) endlich o. würde erzählen können?
also ein café, ein beliebiges, und ich gehe ja doch nie in cafés, also egal. zum zweiten oder dritten mal in meinem leben mit der neuen währung zahlen. zuckerkrümel zählen. passanten beobachten. bang sein. hoffen. irgendwie ging es vorbei. las ich was? schrieb ich was? ich weiß nicht mehr wie, nicht einmal an das unangenehme, das zähe, wie es doch gewesen sein mußte, erinnere ich mich. die stunde kam, die stunde ging, ich zahlte in der neuen währung und ging hinüber zum neumarkt. damals fuhr die linie 16 noch nach mühlheim.

Montag, 14. November 2005

...

tapp, tapp hinter mir her. jeder schritt, jede wendung, jedes stolpern, tapp, tapp. jedes zögern, jedes weiter, tapp? tapp!, jedes schreiten, jedes schlendern: tapp … tränen stehen wartend hinter wällen aus schalentieren. tapp … musik bricht nachmittageweis aus den gefäßen, ein klingender mehltau, abgeschwitzt aus der trägheit der stundenweiser und in die mittagshitze verzittert, die draußen vor dem fenster hockt und grinst, so geht es nicht weiter.

ich könnte so viele konjunktive. doch geschichten sind schwerer zu erzählen, als einem die bücher weismachen wollen.

ich könnte beobachten, und ich tus auch. ich könnte schreiben und ich tus auch. ich könnte mich untätig ins gras setzen und der sonne beim rollen zusehen. ich tus. beobachtetes beobachten. als könnte jemand seinen eigenen schatten einfangen und unter glas setzen. in meiner kindheit sagte man neber mir. ich horche. die entschlüsse brodeln. ehe sie sich milde in schlaf auflösen, dann ist wieder ruhe und die kurven sind still. so geht es nicht weiter.

jedes glück ein pakt. jedes aufatmen und aufbrechen eine übergangsregelung. jede sonne im gesicht aufschub. hinhalt. noch einmal und noch einmal und noch einmal pause. so oft sich sammeln und haltmachen, daß das sammeln und haltmachen zum lebensinhalt wird. wenn es nicht das eine ist, ist es das andere, manchmal rauschesgrelle am morgen, dann wieder tropft spermatöses erwachen von den wänden. tapp, tapp. folgt es mir, oder folge ich? je schneller ich renne, desto ruhiger wird alles. bleibe ich stehen, bricht der lärm aus gesichtslosen mündern. so geht es nicht weiter. so. nicht.

tapp, tapp, wohin des weges. kein weg mehr führt ins wasser, oder in den rausch blinder helligkeit, die das samenkorn in sich barg. nein, wir sind ja schon weiter, höchstens noch, daß die tage bäume schütteln. kenn ich schon kenn ich schon. von hier aus geht’s nach da und dann nach dort. träume schäumeln unentwegt. da sitzt etwa die alte auf der schwelle unterm feigenbaum, kinder spielen ausgelassen in geweißelten gäßchen, sonnenuntergang verheddert sich in piniennadelgrün, auf dem marmor klirrt eis und anis. wär das was?

tapp, tapp.

oder die uferpromenade, die man mit dem kinderwagen abfährt, während onkeltanten, gattin oder dergleichen am arm hängen, wär das was? sonntagnachmittage mit sahnetorte, die im magen schaukelt, schläfrigem bauchansatz und kindergeplapper und in gedanken weilt man schon beim braten, beim üblen projekt des montags, wär das was?

oder einfach weitermachen? aber das tut man ja sowieso, wenn man gar nichts tut. und das tut man meistens.

oder das haus am meer. da sieht man den eigenen riesen vor seinem schatten am schreibtisch sitzen, bücher neigen sich halbschattig aus dem regal, draußen kocht die see. wär das was. dazu müßte man jeglichen traum von sich getan haben: der da sitzt, ist ein riese ohne traum. oder er ist sein eigener traum, was auf dasselbe hinausläuft.

tapp, tapp, tagaustagein, bahnsteigauf bahnsteigab, von stadt zu stadt von haus zu haus. tapp tapp. wie licht über die stirn geworfen.

am heck stehen und dorthin sehen, wo längst keine küste mehr ist. tapp tapp, ist da wer. der versuch einer rettung scheitert täglich. mit jedem scheitern aber wachsen die heimstätten des riesen, die süßen höhlen, die stille ruh. die traumlose ruh.

(tapp tapp)

kein zuhause haust mehr, und die frage ist, ob es jemals anders war.

so geht es nicht weiter.

weiter geht’s.

Montag, 31. Oktober 2005

über weblogs

was ich bei der ganzen sache nicht optimal finde, das ist -- aber natürlich eine definitorische eigenschaft -- die strikt und unänderbar chronologische darstellungsform eine weblogs. alles, was jenseits der "neuesten einträge" ist, verschwindet auf immer in der versenkung, höchstens noch einmal überflogen von augen, die über einen suchbegriff hereingeschneit sind -- und wohl meist ebenso schnell wieder herausschneien. (die meisten zugriffe über suchmaschinen sind bei mir aus dem bereich der botanik zu verzeichnen, was nun wirklich nicht ein zentrales thema auf meinem blog ist).
mir geht es so, daß meine texte fast nie mit ephemerem tagesgeschehen zu tun haben, meist jedoch auf ein allgemeines hinausweisen, und, sofern es mir gelingt, als text für sich allein stehen können. neue leser kann man in einer blogsphäre immer nur mit neuen texten gewinnen (denn niemand stöbert in den archiven, ich übrigens auch nicht; und niemand "sucht" dich, der autor muß zum leser kommen, nicht umgekehrt), was einen ständigen druck bewirkt, immer neues zu produzieren. wenn man erreichen will, daß ein bestimmter text von möglichst vielen gelesen werden soll, so darf man aber lange nichts veröffentlichen, damit der text am anfang stehenbleibt. daraus ergibt sich ein paradox: um gelsen zu werden, muß man viel schreiben; damit etwas bestimmtes gelesen wird, darf man nicht viel schreiben. daher denke ich in letzter zeit verstärkt über eine eigene hp nach.


auch sehr enttäuschend finde ich die discrepanz zwischen eigener und fremder beurteilung meiner texte. meist bekomme ich gerade auf arbeiten, die mir besonders wichtig sind, auf die ich besonders viel mühe und nachdenken verwendet habe, die mich schweiß und ausdauer gekostet haben, auf die ich dann stolz bin, bekomme ich auf solche texte keinen kommentar. nicht einmal ein "find ich gut", ein "find ich langweilig" oder ein "verstehe ich nicht", nein, nichts. schweigen. atmosphärisches rauschen. dann wieder schreibe ich einen text aus drei wörtern ("halt dich raus"), der mich kaum mehr zeit gekostet hat als nötig war, ihn einzutippen, und bekomme 8 Kommentare. das dürfte anderen auch so gehen; ich habe schon einträge gesehen, die nur aus "ich hab kopfweh" oder "der regen geht mir auf'n keks" bestanden, und kommentare im zwanzigerbereich auslösten.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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