Samstag, 14. März 2009
Seite 440
Freitag, 6. März 2009
Gesundheitsinspektion
Draußen standen zwei Herren auf der Schwelle, den Fuß schon fast im Zimmer, so nah, als hätten sie, während Überweg sich vom Boden aufgerappelt hatte, draußen ihre Nasen an die Tür gedrückt; ihre echten Nasen, muß man sagen, denn unverschämterweise trugen sie keine Masken, sondern starrten ihm mit bloßen Gesichtern entgegen. Diese waren rund und voll und auf obszöne Weise rotwangig, und hatten etwas aufreizend Gesundes an sich, wie aus einer Werbung für Orangensaft oder die Ortskrankenkasse. Und der Eindruck täuschte nicht.
„Gesundheit“, fiepte der eine und schwieg dann einen Moment, als wolle er dem Kunstwerk ihres Erscheinens damit einen Titel verleihen, „Gesundheit, Herr Überweg, ist ein teures Gut.“ Der andere nickte beifällig. Überweg bemerkte, daß sie beide ein Namensschildchen am Revers trugen, konnte aber die Aufschrift nicht erkennen. In Ermangelung einer anderen onomasiologischen Lösung, und da die beiden es offensichtlich für überflüssig hielten, sich vorzustellen, beschloß er, sie Hinz, respektive Kunz zu nennen.
„Ein sehr teures Gut“, fuhr Hinz fort und machte eine Bewegung, als wolle er sich ins Zimmer zwängen. Der andere warf schon mehr oder weniger verstohlene Blicke an Überweg vorbei, wie ein Kind, das die Bescherung nicht erwarten kann.
„Krank werden wir alle mal. Das läßt sich bedauerlicherweise noch nicht ganz verhindern. Doch wie oft und wie schwer jemand erkrankt, das liegt mehr in seiner eigenen Hand, als so mancher glaubt. Die einen achten ein wenig auf sich – und ersparen sich und anderen immense Kosten, indem sie seltener krank werden und die Kassen weniger belasten. Die anderen …“
„Die anderen“, übernahm Kunz wieder, „die anderen machen durch unsachgemäße Lebensführung ein ohnehin kaum bezahlbares Gut gänzlich unbezahlbar. Für uns alle unbezahlbar, Herr Überweg. Dabei muß das alles nicht sein. Es ist Ihnen vielleicht nicht klar, welche Summen vermeidbar wären, wenn die Menschen mehr auf sich achtgäben. Risikobereitschaft und Unachtsamkeit führen zu Unfällen; Genußmittel, Drogen und andere Gifte, bewußt oder unbewußt aufgenommen, haben schleichende Vergiftung, Abhängigkeit, Nachlassen der Leistungsfähigkeit zur Folge; falsche Ernährung, zuwenig Bewegung, leichtsinnige Lebensweise machen akut und chronisch krank, und Krankheit gleich welcher Form oder Schwere schwächt die Moral, den Arbeitswillen und die Leistungsbereitschaft. Besonders aber …“
„Besonders aber“, fuhr Hinz fort, „erfordern Krankheiten kostspielige Behandlungen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wer den Herzschrittmacher von Herrn Müller gegenüber“ – Hinz zeigte tatsächlich hinter sich in den Flur – „oder das Insulin von Fräulein Mechernich im ersten Stock“ – der Finger ging nach unten – „zahlt? Nein? Kein anderer als Sie, Herr Überweg. Eine hohe Belastung des Gesundheitswesens trifft uns alle, Sie, mich, Ihre Nachbarn, Ihre Mitbürger, Freunde, Kollegen. Dabei ist es manchmal lediglich Unkenntnis, die die Menschen ihrer Gesundheit beraubt – und damit uns alle unseres sauer verdienten Geldes. Wissen Sie, wieviel die Schmerzmittel Herrn Mittelspechts vom zweiten Stock monatlich kosten? Mo. Nat. Lich! Sehen Sie. Aus diesem Grund …“
„Aus diesem Grund“, fiel ihm Kunz ins Wort, „haben wir Ihnen vor einigen Wochen einen Fragebogen zugesandt …“
„… den Sie leider versäumten, zurückzusenden“, übernahm wieder Hinz und schüttelte kummervoll den Kopf. „Sie sind sicher auch der Ansicht, daß eine Kontrolle jedes Einzelnen im Interesse Aller ist, nicht war? Also hat der Gesetzgeber beschlossen, dem Druck der Krankenkassen wie der Öfentlichkeit nachzugeben und in regelmäßigen Abständen Kontrollbesuche bei den Bürgern durchzuführen …“
„… um festzustellen, ob die Regeln zur größtmöglichen Gesunderhaltung eingehalten werden“, fuhr der zweite fort, „andernfalls nämlich …“
„Andernfalls nämlich“, Hinz hob ein wenig die Stimme, „Sie zurückgestuft werden, also höhere Beiträge zu zahlen haben, und zwar saftig. Wer sich schadet und andere zwingt, diesen Schaden wieder gutzumachen, handelt asozial. Sie gestatten …“
Und er machte Anstalten, sich an Überweg vorbei und durch die Tür ins Zimmer zu drängen. Ein Kampherartig-herber Geruch strömte ihm voraus. Der andere zückte ein Notizbuch und setzte eine ernste Miene auf, wobei ihm die Zunge in den Mundwinkel rutschte.
Unwillkürlich war Überweg einen Schritt zurückgetreten. Das genügte Hinz, um in einer flinken Bewegung ins Zimmer zu gleiten. Ehe Überweg protestieren konnte, hatte sich der andere schon umgesehen und stieß einen verzückten Schrei aus.
„Aaaaaa-ha“, machte er fröhlich und schnalzte mit der Zunge. „Sie trinken Alkohol. Drei Punkte.“ nickte er Kunz zu, der es eifrig notierte.
„Es ist in ihrem eigenen Interesse, damit aufzuhören“, wandte er sich an Überweg. „Alkohol macht süchtig, schlaff, dumm, aggressiv, hat zuviele Kalorien, fördert unguten Appetit, raubt den Schlaf, vermindert Konzentration und Leistungsbereitschaft, und in schlimmen Fällen führt es gar zu Leberversagen.“
Überweg fühlte einen leichten Unwillen in sich aufsteigen. Während der Eingangsrede hatte er kaum richtig zugehört; daß diese Orangensaftwerbungsfritzen aber seine Wohnung inspizierten, ging ja noch. Seit er hier alleine wohnte, war es ohnehin nur seine halbe Wohnung. Aber daß es jetzt dahin kam, daß seine Trinkgewohnheiten kritisiert wurden, das ging nun doch etwas weit.
„Meine Leber gehört mir“, brummte er.
„Das glauben Sie“, entgegnete Hinz, „nach der neuesten Gesetzgebung haben Sie sich ihre Leber nur geliehen. Sie sind ausdrücklich verpflichtet, sorgsam damit umzugehen, damit sie im Falle Ihres Ablebens noch gebraucht werden kann. Die Entnahme von Organen im Falle ihres Gehirntodes ist ab dem ersten ersten kommenden Jahres in jedem Fall rechtmäßig. Auch gegen Ihren Willen. Wo kämen wir denn hin, wenn man dem Egoismus auch noch posthum zu seinem Recht verhelfen wollte? Wissen Sie, wie eng es derzeit auf dem Gebrauchtlebermarkt aussieht? Sie machen sich keine Vorstellung davon, wieviele Lebern jetzt in diesem Augenblick dringend benötigt werden. Übrigens sollten Sie nicht mit einem nassen Handtuch auf den Schultern herumlaufen, Sie glauben ja nicht, was Erkältungen das Gesundheitssystem kosten. Was ist den das?“
Plötzlich war es still. Kunz hatte im Schreiben innegehalten. Hinz war ein wenig blaß um die Nase geworden. „Oh mein Gott“, lispelte Kunz. Beide starrten mit einer Mischung von Abscheu und Faszination in den prallen Versicherungswerbungsgesichtern auf den Gegenstand, den Hinz mit spitzen Fingern hochhob und am ausgestreckten Arm in die Höhe hielt. Eine Zeitlang sagte niemand etwas. Überweg tastete verstohlen nach seiner Leber.
Kunz fand als erster die Sprache wieder. „Das gibt’s doch nicht“, wisperte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen. Hinz räusperte sich. Dann bedachte er Überweg mit einem Blick, wie sie Fernsehkommissare haben, wenn sie zur Verhaftung des Mörders schreiten, und sagte:
„Sie haben … getötet.“
Jedenfalls klang es so. Tatsächlich sagte er, und seine Stimme wurde brüchig: „Sie … rauchen“
„Er … raucht …“, hauchte Kunz und vergaß vor lauter Schreck, es aufzuschreiben. Hinz stellte den Aschenbecher vorsichtig ab und betrachtete einen Moment lang seine Finger, als überlege er, ob Wasser und Seife zur Reinigung ausreichen würden oder man die Gefährdung der Gesundheit durch Pflanzenasche doch besser mit Alkohol oder Parachlorbenzol ausmerzen müsse.
„Wissen Sie eigentlich …“, begann er dann.
Überweg hatte die Untersuchung seiner Leber abgeschlossen. „Ja, weiß ich“, fiel er Hinz ins Wort.
„Warum tun Sie es dann?“
„Das interessiert Sie doch gar nicht.“
„Mich interessiert Ihre Gesundheit.“
„Da bin ich aber gerührt. Der Kühlschrank bleibt zu!“
Denn Kunz hatte die Inspektion auf die Küche ausgeweitet und nach der Kühlschranktür gegriffen.
„Wie sollen wir Sie denn versicherungsmäßig einstufen, wenn wir nicht wissen, wovon Sie sich ernähren?“
„Gar nicht.“
Einen Augenblick schien Hinz aus der Fassung. „Sie ernähren sich gar nicht?“ blinzelte er.
„Sie sollen mich nicht einstufen, meinte ich.“
„Seien Sie doch nicht so stur. Damit kommen Sie nicht weiter. Also, vernünftig. Wovon ernähren Sie sich?“
„Von Gin und Zigaretten.“
„Das kann doch nicht sein.“
„Stimmt auch nicht.“
„Also?“ Hinz zog an der Tür. Überweg hielt dagegen.
„Ein bißchen Vermuth, ab und an.“
Hinz blinzelte. Der Kühlschrank wackelte.
„Und wozu haben Sie dann einen Kühlschrank?“
„Für die Eiswürfel.“
„Hören Sie“, keuchte Hinz und zerrte an der Tür, die Überweg weiterhin entschlossen zugedrückt hielt, „hören Sie. Es steht schlecht genug um Sie. Sie rauchen. Sie trinken. Sie sitzen mit einem nassen Handtuch um die Schultern in der Zugluft. Ihre Matratze ist durchgelegen. Treiben Sie Sport? Hab ich mir doch gedacht. Sie machen alles noch schlimmer. Zeigen Sie uns wenigstens, daß sie da drin ein Vitaminpräparat von Strahlemann & Mausi haben, oder wenigstens einen Apfel® oder eine Tomate™, und wir vergessen die Matratze, ja? Mensch, so hilf mir doch mal, Kunz!“
Apfel® ? Tomate™? In diesem Augenblick riß Überweg der Geduldsfaden.
„Raus!“
„Erst wird der Kühlschrank inspiziert.“
„Raus sage ich. Und zwar raus™. Von Strahlemann & Mausi. Alle beide. Und zwar sofort®.
„Erst der Kühlschr-…“
„Nix da. Schluß jetzt mit dem Auftritt. Übrigens ernähren Sie sich offensichtlich von Hustenbonbons. Verpesten Sie nicht länger meine Wohnung mit ihrem Pfefferminzatem. Sonst werde ich wirklich krank. Bedenken Sie, was das die Gesundheitssysteme kostet.“
„Un-ver- schämt- heit“, keuchte Hinz und zog im Verein mit dem erstaunlich kräftigen Kunz bei jeder Silbe an der Tür. Der Kühlschrank schwankte bedenklich. Die Tür klappte kurz auf und knallte wieder zu, als Überweg sich dagegenwarf. Die Lage wurde kritisch.
In diesem Moment kam ihm der rettende Einfall.
„Das ist Körperverletzung!“ schrie Hinz unter Husten.
„Wir werden zurückgestuft!“ wimmerte Kunz und hustete noch heftiger .
„Das wird Sie teuer …“, hob Hinz an und wackelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger, aber Überweg hatte, während der erste vor dem Rauch der Zigarette das Weite suchte, den zweiten schon am Kragen gepackt und begonnen, ihn zur Tür zu schleifen.
„Aua, nicht wehtun“ fing der an zu flehen, „bitte nicht verletzen, bei einem Arbeitsunfall werde ich zurückgestuft …“
„Idiot, sei doch still“, rief der andere von draußen. Ein Stoß, ein Griff, ein Zug. Die Tür schloß sich über den roten Wangen, Namensschildchen und Geschrei. Überweg schloß ab und lehnte schnaufend an der Tür. Die kämen wieder, so viel war klar.
Erstmal einen Schnaps, dachte Überweg, und dann machen wir einen Plan©.
Donnerstag, 26. Februar 2009
Amseln
Sie waren schon immer vorher, ganz gleich, was als erstes kam. Sie waren.
Leuchtspuren in einem Sinnenraum, der weder dem Auge noch dem Ohr, noch irgendeinem Organ, das aus der schlafenden Mitte ins Dunkel hinauswächst, gehören. Sie waren vor allen Organen, vor jedem Blut. Tönernes Leuchten. Leuchtende Töne. Ertastbare Stimmen. Klang wie eine Zeichnung in Sand, Gesänge in Braille-Schrift.
Sie gehören zu einer anderen Zeit, die jedem Beginn vorausläuft. Langsam dem Anfang überlagert, werden sie irgendwann eins mit dem Hier, dem Jetzt, jedem denkbaren Später, wenn es erst denkbar ist. Unterm Fokus werden zwei Wege einer, ein Traum fällt in sich zusammen, ein Tuch zerreißt im Spiegel, und indem sich die Zeit entscheidet und in Vorher und Nachher zerfällt, erinnerst du dich, und die Stimmen nehmen sich selbst einen Namen.
Sie sind vor jedem Denken. Sie sind Erinnerung, die im Früheren von Späterem handelt, ihre eigene Zukunft. Wenn du sie hörst, zum erstenmal hörst, hast du sie schön gehört. Du hast sie gehört, bevor du sie hörtest. Wie lange? Seit du denken kannst.
Ein Klangbaum. Wie eine Eigenschaft des Dunkels selbst, Faltungen im Raum, ein knisternder Schleier, den eine Brise zu immer neuen, doch einander ähnlichen Klangkaskaden verreibt, bis jäher Augenaufschlag das Dunkel dem Dunkel zuschlägt und den Klang dem Klang, und die Stimmen sich aus der Weite der Straße heranschwingen müssen, nun fern und an ihrem Platz, wie alles.
Liegenbleiben, denkst du, liegenbleiben, bis der Eifer des Tages sie an sich nimmt und sie in den Bäumen verstummen.
Freitag, 20. Februar 2009
Carneval
Das alles ist Jahr für Jahr nervig und anstrengend. Aber das ist noch nicht, was mich wirklich erschüttert.
Es ist etwas, das augenscheinlich nur ich sehe, es ist diese verzerrte Ausgelassenheit, die doch nichts weiter ist als maskierte Verzweiflung, ein Ablenkungsmanöver; das Toben der Menge, ihre Fröhlichkeit, nichts als ein empfindlicher Balanceakt, der jederzeit kippen, eine Larve, hinter der jederzeit die Fratze der Zerstörung und heillosen Verwirrung herausspringen kann.
Und es auch tut.
Kurz vor Bonn nämlich plötzlich Geschrei, Zorn und Schmerz, wüste Beschimpfungen, „Laß mich!“, „Nenn mich nicht …!“, Geheul und viel Unartikuliertes, dazwischen zaghafte Beruhigungsversuche, schließlich setzt sich ein Frau in Katzenkostüm neben ihre Freundin auf der anderen Seite des Ganges, schwer atmend, aufgebracht, „Der soll nicht zu mir reinkommen, ich war auf Toilette …“, und die Freundin: „Schrei mich nicht an …“, während aus dem hinteren Zugteil die Stimme eines Mannes zu hören ist, „und das, nachdem ich vier Jahre mit ihr zusammen war … vier Jahre …“, das Gebrüll ist schrill, die Stimme überkippend, von Schluchzern durchsetzt.
So etwas macht mich völlig fertig. Ich denke an Gustav Mahler, der genau dieses Pendeln zwischen grellbuntem Frohsinn und fratzenhafter Agonie in Töne zu fassen verstand. Ach du lieber Augustin, alles ist hin. Ich könnte mich hinsetzen und heulen, wenn ich in die glasigen Augen unter der Pippi-Langstrumpf-Perücke blicke, in diesen Abgrund. Ihr werdet alle einmal auf dem Totenbett liegen, denke ich. Es ist zum Heulen.
2 Stunden
Montag, 16. Februar 2009
Der erste (Fringilla coelebs)
Unvermittel und unangekündigt, als wäre es nichts, hatten sie wieder eingesetzt, so heimlich, daß ich mir nicht sicher sein kann, sie nicht vielleicht schon vorgestern oder letzte Woche vernommen zu haben. Als hätten sie nicht geschwiegen so lange Zeit – wollten sie mich jetzt zum besten halten? Wann hatten sie das untereinander ausgemacht? Oder war es Bescheidenheit, die sie so ohne jedes Aufhebens und an jener unauffälligen, durch nichts aus der Menge anderer Orte herausgehobenen Stelle (ein bißchen grauweißliches Gestrüpp, eistrockenes Gras, Kiefern und Eichen im Wechsel) wieder einsetzen ließ?
Oder war es ihnen peinlich, so lange geschwiegen zu haben? – Jetzt glauben sie, es fällt keinem auf, sagt eine imaginäre Begleiterin und kickt einen Stein weg.
Ich kann mich auch getäuscht haben, und sie haben viel früher schon begonnen, so mir-nichts-dir-nichts, wie die Stimmen, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben, als sei der Winter einfach nur ein ärgerlicher Irrtum meinerseits, ihre Trillerketten genau an dem losen und versteckten Ende wieder aufnahmen, wo sie (wenn es denn überhaupt eine Pause gegeben hat) irgendwann vor ein paar Monaten (oder vielleicht auch nur Tagen, Stunden) abhanden gekommen waren. Und vielleicht war ja wirklich keine Zeit vergangen? Alles eine Verwechslung, ein wüster Traum, ein Stocken der Säfte, eine Halluzination? Wir haben hier schon immer getrillert, trillern sie, und wenn du uns nicht hörst, ist das dein Problem.
Nie eine Frostnacht, nie ein Sturm, die mürrischen Menschen nicht, die langen Nächte nicht und auch nicht die müden Nüsse und die verschrumpelten Äpfel: Alles war gestern morgen so frisch, als sei es eben ins Dasein getreten, der Frost auf den Wegen zerschimmernd wie ein Rest vorgeburtlicher Unvollkommenheit, ein Schorf, ein Überbleibsel, etwas, das sich noch glätten, aushärten, austrocknen müßte und seine vorbestimmte Form bald annähme, wie eine blitzende Libellenschwinge.
Vielleicht hatte auch nicht ich mich geirrt, sondern die Zeit selbst: Sie konnte sich ja verschluckt haben an einer Stunde oder einem schiefen Augenblick, wie es deren viele gibt; sie war gestolpert und zur Blase angeschwollen, hatte sich selbst zu labyrinthischer Vielfalt ausgetrieben … und war jetzt, in jenem Augenblick, dem nur noch Reste der Irrfahrt – Eisblumen, Baumskelette, Schneepfützen – anhafteten, und da der Buchfink wieder (genau, als wäre nichts gewesen, und es war ja auch eigentlich keine Zeit vergangen) zu trillern begann, an ihren Ausgangspunkt vor dem Mißgeschick zurückgekehrt: Ein Trillern im Baum. Und da war es wie immer.
Freitag, 13. Februar 2009
Der Kampf um Ruhe (1)
Das einzige stehlenswerte Utensil wäre mein Laptop, das ich immer, wenn ich mein Heim verließe, mitnähme oder es, wenn ich beabsichtigte, eine Wanderung oder eine Reise zu machen oder mich sportlich zu betätigen, an meiner Arbeitsstelle ließe. Morgens führe ich mit dem Fahrrad und dem Zug zur Arbeit wie jetzt auch; mit dem Wohnmobil größere Strecken als nur von einer Oase der Stille bis zur nächsten zu fahren, käme mir nicht in den Sinn.

Nicht, wie man naiverweise vielleicht denken könnte, das Frisch- oder Abwasser, nicht die Stromversorgung oder die Heizung ist dabei das größte Problem. Nein, derlei hemdsärmelige Schwierigkeiten gelten mir als überwindlich, vieles von dem, was der zivilisierte Mensch angeblich haben muß, entbehrlich. Wenn Eskimos sich bei 0 °C wohlfühlen können, schaffe ich das sicher bei +4. Duschen kann man auch im Schwimmbad. Einmal die Woche reicht sowieso und ist besser für die Haut. Außerdem gibt es bei mir auf der Arbeit eine schöne Dusche. Für die Kommunikation gibt es ein Internetcafé und der piratöse drahtlose Internetempfang. Abfall wird man überall los, und Abfall zu vermeiden hätte dann plötzlich einen ganz anderen, neuen Sinn. Für das Abwasser wird sich auch was finden. Heute habe ich in der Beilage der „Süddeutschen“ gelesen, daß Miniwindanlagen schon ab 1000 Euro zu haben sind.
Nein, das größte Problem ist ein anderes, ein feineres, man ahnt es schon, es sind: die Bücher. Von denen mich zu trennen scheint mir (im Augenblick? Noch?) völlig unmöglich. Man könnte diese Situation als die praktische Instantiierung eines bekannten Fragebogenelements ansehen: Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen? Die berühmte Antwort Umberto Ecos, das Telephonbuch (denn mit all den Namen könnte man sich so viele Geschichten ausdenken), scheint mir etwas radikal und – bei allem Respekt für eine reiche Innenwelt – ein bißchen solipsistisch. Andererseits: Da würde sogar das Laptop ausreichen.
Montag, 9. Februar 2009
Konzentrationsschwäche
Schweben. Kreiseln. Auf-der-Stelle-treiben. Klangfetzen. Die Glieder von einem müden Pochen durchwalkt. Kaffee, der wirkungslos in den Adern verplätschert. Draußen summen die Fahrzeuge. Drinnen summt es im Irrgarten der start- und ziellosen Gedanken und Gedänkchen.
Keine zwei Wörter reicht meine Konzentration, ehe sich die Gedanken verselbständigen. Ein Satz, ein Text gar, ist nur unter Aufbietung aller Kräfte ins Verständnis zu hämmern. Finger auf der Zeile. Wort-für-Wort-Methode. Ich beginne zu driften, kaum daß ich das Buch aufgeschlagen habe. Zwei Wörter oder eine halben Zeile, und ich schalte bereits ab. Es ist eigentlich kein Denken, ein Träumen ist es, ein inneres Schweifen, das aber unangenehm ist, weil es von der ständigen, erfolglosen Bemühung um Konzentration begleitet wird. Da war doch noch was? Ich wollte doch? Einen neuen Kaffee aufsetzen?
Ich bin versucht, es dem Text in die Schuhe zu schieben. Aber es geht mir mit allen Texten so, ausgenommen die allereinfachsten, die Einworttexte, die Plakate, die Broschüren. Und es wird schlimmer. Belletristik, ein Kraftakt. Wissenschaftliche Texte, eine Qual seit langem, sind kaum mehr zu handhaben. Schwierige wissenschaftliche Texte völlig jenseits meiner Reichweite. Daß ich dieses Driften rasch bemerke, nützt nichts. Sich zur Ordnung rufen, den Satz in seine Einzelteile zerlegen, die Wörter mit Synonymen austauschen, die Syntax variieren, Umformulieren – nichts hilft. Vor mir ist leeres Geplapper, und ich merke, wie sich die Gähnmuskulatur zusammenzuziehen beginnt. Ich weiß im Prinzip, was die Wörter bedeuten, weiß auch im Prinzip, was ihre Zusammenfügung bedeutet, aber, was da steht, ergibt überhaupt keinen Sinn. Geplapper. Klangfetzen. Auf-der-Stelle-treiben. Müdes Pochen in den Gliedern.
So vergehen lange Viertelstunden, bis ich so erschöpft bin, daß ich augenblicks einschlafen könnte. Was wollte ich? Ach ja, Kaffee …
Freitag, 6. Februar 2009
Über die Zeit (Seneca an Lucilius)
In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeterit; quidquid aetatis retro est mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris. [3] Dum differtur vita transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.
Darin nämlich täuschen wir uns, daß wir den Tod als vor uns liegend betrachten: Dabei ist ein großer Teil von ihm schon geschehen; alles, was an Lebenszeit hinter uns liegt, hält der Tod in Händen. Mach es also so, mein Lucilius, wie du schreibst, daß du es schon tust, und umfasse alle Stunden; so wird es geschehen, daß du weniger am Morgen hängst, wenn du nur erst das Heute in deinen Besitz genommen hast. Das Leben geht vorbei, während man es aufschiebt. Nichts, mein Lucilius, gehört uns, nur die Zeit ist unser eigen. Diese einzige flüchtige und schlüpfrige Sache gibt uns die Natur zum Besitz, und es verjagt uns daraus, wer immer will. Und so groß ist die Dummheit der Menschen, daß sie, wenn sie um wertlose oder doch sicher ersetzbare Kleinigkeiten gebeten haben, sich diese in Rechnung stellen lassen, während niemand, wenn er Zeit bekommen hat, der Ansicht ist, etwas schuldig zu sein, obwohl sie doch das einzige ist, was man nicht einmal, wenn man dankbar ist, zurückzahlen kann.
Sæby (4)
Montag, 2. Februar 2009
Unendliche Geschichte
Freitag, 30. Januar 2009
Ceterum censeo ...
Sonntag, 18. Januar 2009
Für den Wanderer
Weswegen es sich manchmal verlohnt, die Zähne zusammenzubeißen.
Mittwoch, 7. Januar 2009
Sæby (3)
Daher bedurften sie nicht des verzauberten Kindes.
Doch das Kind bedurfte ihrer.
Mittwoch, 31. Dezember 2008
...
Wir machen dies noch und das noch, dann sind wir fertig. Dieses Fenster noch putzen, diese Unterschrift noch leisten, diesen Gang noch tun. Die Tür zufallen lassen. Abschließen. Dann aufatmen. Nichts hat Zeit, außer allem. Zeit, dieser knappe Stoff, ist im Überfluß vorhanden. Der Himmel wie eine Karte für Zugvögel. Immer noch finden sich Hagebutten, blaut es aus Strauchdraht heraus. Immer noch schweben Segel auf dem Meer.
Es ist wie in einem Traum, wo alles stillsteht, indes die Bewegung im Stillstehen weiterläuft und weiter, die Flächen und Kanten der Häuser, die Straße mit ihrer Staubbahn, Schattenfall der Pfähle, Flüsse unter den Leuchttürmen der Pappeln, die Verästelungen der Baumgerippe, zwischen denen die Sonnenstrahlen sich spannen, die vereisten Brunnen, die nichts zum Sprühen haben als das Licht auf den Kristallen erstarrter Bögen, endlich die eigenen Stiefelspitzen -- alles ist Bewegung, steht still, bis man wieder wegsieht. Oder anders herum? Die Sohlen hart von Geröll, die Nase müde von Staub, läßt, was kommt, schimmernde Türme aufwachsen.
Sonntag, 21. Dezember 2008
Solstitium hiemale
Ich werde hierbleiben.
Ich werde nicht
in einen anderen Teich hüpfen. Ich werde
nicht denken, daß es anderswo schöner ist, nur
weil es anderswo ist, ich werde
hierbleiben, ich werde
mich nicht verwandeln, ich werde höchstens
älter
weiser
wütender
werden, nein, ich werde nirgendwo anders hingehen.
Ich werde hiersein,
in diesem Wald
in diesem Tümpel.
Ich werde mich nicht verwandeln. Ich bleibe
ein Faun,
ein Frosch
ein Urweltfisch, ich werde
keine andere Sprache sprechen, als die
meine Ammen mir gaben, ich werde
hierbleiben.
Hier, wo ich immer war,
wo der Tümpel tief
und das Wasser still ist.
Ich werde hiersein,
dieser Faun,
dieser Frosch
dieser Urweltfisch,
den silbernen Spinnen
Gefährte und Hüter
und den Olmen und Salamandern,
hier, wo die Wege
beginnen, will ich bleiben und auf euch warten und,
wenn ihr zurückkommt,
euch euren ersten Namen wiedernennen
und euch eure eigenen Geschichten zurückerzählen,
die ihr vergessen habt.
Ich werde hiersein in
der längsten Nacht und
die Geheimnisse wahren,
ein greiser Faun,
ein alter Frosch
In diesem Wald,
in diesem Tümpel.