Samstag, 2. Oktober 2004

Begegnung

Freitag letzte Woche nach Empfang einer gewissen E-Mail Heiterkeit in Bauch und Augen, die trieb mich hinaus, die ließ die Füße laufen; geschwind ging es über den Kreuzberg, zum Friedhof, am Grab Jennifer Helds vorbei, wo ich kurz stehenblieb, wie ich es immer tue (eine Schar Marienkäferchen aus Holz tummelte sich auf der schwarzen Erde zwischen den frischen Blumen), weiter dann hinunter zum Bach, und in verwildertem Gedankengestrüpp über den Steg und in den Wald hinauf.

Ich lasse die Hütte rechts liegen. Links dehnt sich hinter der Buchenallee die Wiese. Weit weg, träge über dem Gras dahintreibend, äsen Pferde, eingehüllt in Friedfertigkeit. Eicheln prasseln auf die Wege. Das Licht ist abendlich und feucht. Irgendwo im Laub schimmern die Dächer der Sportanlage. Amseln zetern ein unsichtbares Raubtier an. Plötzlich kommt mir jemand entgegen.

Kaum habe ich ihn wahrgenommen, das Rascheln seiner Schritte, die plötzliche Farbe seiner Regenjacke, wie sie aus der Wegbiegung herausflattert, da hat auch er mich schon gesehen. Im gleichen Augenblick ruft er mir zu. Ich sehe die Flasche in seiner Hand und denke, oh nein.

Eh, du, Schneemann ... du bist ein Schneemann ... Er winkt. Ich will rasch vorbei.

Er aber steuert geradewegs und unignorierbar auf mich zu. Er hat schwarzes Kraushaar, sehr dunkle Haut, afrikanische Züge. In der Linken hält er eine Rotweinflasche am Hals, in der nicht mehr allzu viel Inhalt herumschwappt. Wir umkreisen einander halb, wie zwei scheue Hunde, bleiben stehen. Es wäre unhöflich, einfach weiterzugehen.

Du bist ein Schneemann, stellt er fest. Aha, denke ich.

Ein Schneemann? frage ich zurück. Er zeigt auf mich, dann auf seine Brust.

Ich, ich bin wie du, wir sind Brüder, ich bin wie du.

Ja, erwidere ich kopfschüttelnd, aber du bist kein Schneemann.

Er stutzt, lacht dann. Du, du bist gut, sagt er und kommt näher. Der Wein plätschert in der Flasche. Unter der Regenjacke trägt er Anzug und Krawatte. Ich sehe eine Krawattennadel leise schimmern.

Schwarz und weiß, sagt er, ist das ein Unterschied? Hat das eine Bedeutung? Was ist schwarz und weiß?

Sein Akzent ist weich, ein wenig wie französisch, undefinierbar.

Ist schwarz oder weiß … ist das wichtig?

Das sind Farben, weiter nichts, entgegne ich beschwichtigend. Er nickt anerkennend. In meiner Heimat, sagt er, ist es kalt. Kälter als hier.

Kälter als in Deutschland? wundere ich mich, Wo kommst du her?

Aus Somalia.

Und da ist es kälter als hier?

Viel kälter!

Wie die meisten Menschen seiner Herkunft hat er wunderschöne Hände, die er in ausdrucksstarken, eleganten Gesten zu bewegen versteht. Da ist es so kalt, sagt er, daß die Schafe und Ziegen manchmal erfrieren.

Und dann kommt er wieder auf Schwarz und Weiß zurück und erklärt mir etwas wirr, wie Gott die Menschen geschaffen hat. Ich höre zu und wundere mich nur ein bißchen.

Ich bin normal, betont er schließlich feierlich. Normal, normal.

Mein lieber, denke ich, ich weiß nicht, was du alles bist, Prediger, Diplomat, Geschäftsmann, keine Ahnung, aber normal, na, ich weiß nicht.

Normal, normal, wiederholt er, als könne er meine Gedanken lesen, und unterstreicht die Bedeutung seiner Worte mit energischen Handbewegungen seiner schönen Hände. Ich soll verstehen.

Normal, normal.

Es ist sein Akzent.

Nomade, Nomade, sagt er, Ich nicke. Nomade, wiederhole ich.

Er nickt auch. Und Nomaden leben ewig, sind unsterblich, fügt er hinzu.

Dann ist unser Gespräch zu Ende. Bevor er sich abwendet, legt er die Hand auf die Brust und deutet anmutig eine Verbeugung an.

Ich winke ihm zu, wir gehen unserer Wege.

Noch Minuten später grinse ich. Ich denke, daß diese Begegnung eigentlich für sie bestimmt gewesen sein muß. Sie hätte auch viel besser darüber zu schreiben gewußt. Als hätte ich ihr eine Begegnung gemopst, so kommt es mir vor.

Ich schaue auf meine weißen Hände und frage mich, was von mir übrigbleiben wird: Eine Möhre, ein Besen, zwei Kohlenstücke, die naß und glanzlos in einer Pfütze liegen, wenns hoch kommt vielleicht noch ein Hut, und einen Augenblick lang wünschte ich, ich wäre auch ein Nomade mit schönen Händen.

2.10.2004

Ich will eigentlich nicht mehr tolerant sein. Wenn Toleranz heißt, sich nicht mehr gegen widerstrebende Dinge zur Wehr zu setzen, dann muß ich für mich sagen: fort damit! Ich glaube, ich setze mich viel zu selten zur Wehr. Ich glaube, ich akzeptiere viel zu viel freimütig, ohne zu überlegen, daß mein eigenes Territorium schwindet. Wenn es so ist, wie einmal ein Soziologe (dessen Namen ich vergessen habe) gesagt hat, daß wir zu viele sind, um uns jemals darüber einigen zu können, wie die Welt aussehen sollte: Dann bleibt nur der Kampf, das Ringen ums Eigene ...

In Stunden schlechter Laune denke ich gar, daß Toleranz ein selbstwidersprüchlicher Begriff ist, etwas, das nicht gedacht werden kann, ohne sich sofort selbst zu negieren.

Zumindest aber läßt sich Toleranz nicht auf sich selbst anwenden.

2.10.2004

Manchmal denke ich, daß, hätte ich die Macht zu zwingen und zu verbieten, ich diese Macht manchmal gebrauchen würde. Und mir graut vor mir selbst. Manchmal ist es beruhigend, keine Macht zu haben.

Reizvoll ist der Gedanke trotzdem von Zeit zu Zeit.

2.10.2004

Manchmal denke ich, daß, hätte ich die Macht zu zwingen und zu verbieten, ich diese Macht manchmal gebrauchen würde. Und mir graut vor mir selbst. Manchmal ist es beruhigend, keine Macht zu haben.

Reizvoll ist der Gedanke trotzdem von Zeit zu Zeit.

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